Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
unergründliche Heimleiterin Mrs Ollenbach im Gespräch mit Dr. Jenkins an, dem praktischen Arzt im Ruhestand, der offiziell für alle medizinischen Belange im Hause zuständig war. Er war ein typischer Colonel Saunders, volles weißes Haar, Spitzbart und imposanter Schnurrbart. Bei dem Anblick der beiden verlangsamte Madeleine ihr Tempo. Es war recht schwierig, einen Termin bei dem Respekt einflößenden Duo zu bekommen, und eine spontane Audienz war eine Seltenheit.
»Mrs Ollenbach, Dr. Jenkins«, rief sie ein wenig zu laut. »Einen Augenblick bitte, ganz kurz.«
»Oh, sieh an, da ist ja unsere Madeleine«, antwortete Dr. Jenkins, und seine väterliche Stimme klang aalglatt. »Ich freue mich, Sie zu sehen.« Er fasste sie am Arm und entfernte sich mit ihr so weit, dass man sie am Empfang nicht mehr verstehen konnte. »Ist es nicht wunderbar mit unserer Mrs Frank? Sie ist in guter Verfassung, nicht wahr?«
Madeleine runzelte die Brauen. »Wirklich? Sind Sie der Meinung?«
»Ja, absolut. Es geht ihr so gut, dass ich meine, wir können auf die letzten EKT-Behandlungen verzichten. Ich möchte Sie nur auf einige merkwürdige Nebenwirkungen hinweisen …«
Madeleine fiel ihm ins Wort. »EKT? Meine Mutter wurde einer Elektrokrampftherapie unterzogen?«
»Ich dachte, Sie wüssten das.«
Mrs Ollenbach, die hinter ihnen stand, schaltete sich ein. »Ich konnte Sie nicht erreichen, Ms Frank. Darum habe ich Ihren Vater angerufen. Mr Frank hat der Behandlung zugestimmt.«
Madeleine drehte sich zornig zu ihr um. »Das ist doch nicht zu fassen! Sie können mich jederzeit in meiner Praxis erreichen, und zweimal in der Woche bin ich hier im Haus. Meinen Vater sollten Sie nur im Notfall anrufen. Wozu braucht meine Mutter eine EKT? Sie bekommt schon genug Medikamente, die würden selbst ein Pferd von den Hufen hauen.«
Dr. Jenskins hob abwehrend die Hand. Sie war verbunden und lag in einer Metallschiene. »Es ist eine durchaus anerkannte Methode bei Altersdepressionen. Als ihr behandelnder Arzt war ich der Meinung, dass sie Ihrer Mutter guttun würde, und der Psychiater hat zugestimmt.«
»Ich glaube, in der heutigen Zeit ist es das allerletzte Mittel, das eingesetzt wird, Dr. Jenkins«, widersprach Madeleine mit gesenkter Stimme, um ihre Missbilligung etwas gedämpfter zum Ausdruck kommen zu lassen. »Meine Mutter ist noch nicht alt, und sie stellt auch keine Gefahr für sich oder andere dar. Sie isst und spricht. Übrigens«, wandte sie sich an Mrs Ollenbach, »sie hat mir erzählt, hier sei ein Arzt, der sich mit ihr unterhält?«
Es folgte ein kurzes Schweigen.
»Ach ja, der.« Mrs Ollenbach lachte gezwungen. »Ich wollte Ihnen davon erzählen. Einer unserer Gastgeriater war von dem Hintergrund Ihrer Mutter fasziniert. Darum kontaktierte er Dr. Alvarez … äh, in London. Er ist eigentlich kein Arzt. Sein Bereich ist psychoanalytische Anthropologie. Sein Spezialgebiet sind … äh … Stammeskulte, außergewöhnliche Religionen und solche Sachen. Er und Ihre Mutter haben sich einige Male nett unterhalten. Er spricht die Muttersprache von Mrs Frank …«
»Sie meinen Spanisch, oder?«, fragte Madeleine frostig.
Das Duo tauschte Blicke aus.
Madeleine wandte sich an Dr. Jenkins. »Sie wollten mir von irgendwelchen Nebenwirkungen der Schockbehandlung erzählen. Worum genau handelt es sich dabei?«
Der Arzt setzte sein gütiges Colonel-Saunders-Lächeln auf. Es hätte nicht überrascht, wenn ein Eimer mit gebratenen Geflügelkeulen in seinen Armen erschienen wäre. »Oh, wie soll ich das erklären? Nun, zumindest ist die Depression abgeklungen.« Er stieß seine Komplizin an. »Sie weiß wirklich alles über uns, nicht wahr, Mildred? Vor ein paar Tagen weissagte sie mir, ich würde mir den kleinen Finger brechen, und bei Gott, sie hatte recht.« Er lachte überschwänglich und wedelte mit seiner bandagierten Hand. »Eine Stunde später erwischte tatsächlich die Autotür den verdammten Finger.«
Mrs Ollenbach sah peinlich berührt aus. Madeleine starrte Dr. Jenkins kopfschüttelnd an. »Sie werden umgehend die EKT-Behandlung abbrechen. Ich glaube wirklich nicht, dass sie für meine Mutter angebracht ist.«
»Mrs Frank möchte ein Abonnement«, schaltete sich Mrs Ollenbach ein. »Irgendeine kubanische Zeitschrift. Ich habe sie im Internet gefunden …«
»Alles, was sie will, Mrs Ollenbach. Stellen Sie es meinem Vater in Rechnung.«
Madeleine verabschiedete sich, gab ihren Besucherausweis zurück, unterzeichnete ihre
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