Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
jetzt miteinander reden.«
Madeleine entwand sich dem Griff ihrer Mutter und wich zurück. Beinahe wäre sie auf dem faulenden Laub ausgerutscht. An einigen Stellen war der Treidelpfad sehr schmal, und das Kanalwasser sah trüb und kalt aus. Seit einigen Monaten erschreckte es sie, wie beharrlich Mama an ihr klebte und sie brauchte, vor allem, seit sie Key West verlassen hatten. Die arme Mama, sie wirkte so verloren, so ängstlich. Sie war zutiefst abhängig von Madeleine geworden. Und nun auch noch das!
»Bitte erzähl Papa nichts davon …« Madeleine griff nach einer Strähne des langen schwarzen Haares ihrer Mutter und ließ sie durch die Finger gleiten. »Ich war wahnsinnig verliebt und habe einfach … na ja, den Kopf in den Sand gesteckt. Aber als ich diesen Morgen aufgewacht bin, ist es mir klar geworden. Es ist reiner Wahnsinn.«
»Ja, aber …«
»Du kannst etwas tun, ja?«, bettelte Madeleine. »Hat Esperanza nicht den Frauen zu Hause etwas gegeben?«
Mit einem flammenden Blick schleuderte Rosaria ihr Haar zurück. »Davon weiß ich nichts.«
Rosaria trug einen grauen Mantel, der an ihrem Hals scheuerte. Sie hatte nie in ihrem Leben einen Mantel getragen, und er sah fremd aus an ihr. Ihre dunkle, feurige Schönheit und ihre farbige Kleidung passten nicht an diesen Ort, dessen Bewohner blass und stilvoll waren und beim Sprechen vor Snobismus halbe Silben verschluckten.
»Gut, wenn du nichts tun kannst, werde ich einen Arzt aufsuchen. Ich habe mit der Krankenschwester in der Schule gesprochen. Ich bin erst fünfzehn und noch nicht bereit für ein Baby. Und der Garnelenfischer ist nach Indien entschwunden; ich kann es ihm noch nicht einmal sagen. Ohnehin war er so wütend auf mich, weil ich ihn über mein Alter belogen habe, dass er es wahrscheinlich gar nicht wissen will.«
Sie drehte sich um und machte sich wieder auf den Weg. Rosaria blieb ihr auf den Fersen. Sie kamen wieder an eine Schleuse, dann an eine zweite. An einer Seite war der Weg von vertäuten Schiffen gesäumt, auf denen Leute offenbar das ganze Jahr über wohnten. Fahrräder, Stapel von Feuerholz und Blumentöpfe mit Pflanzen standen dicht gedrängt auf den Dächern, und aus den Schornsteinen stieg Rauch auf. Genau darum liebte sie diesen Weg zur Schule: Er erinnerte sie an die Houseboat Row in Key West und an Menschen, die auf dem Wasser wohnten. Nur dass es in Bath kein Meer gab, und sein Geruch und seine Geräusche fehlten ihr.
Wieder packte Rosaria sie am Arm, um sie aufzuhalten.
»Wenn du schon hinter mir herlaufen musst, dann bleib wenigstens nicht stehen«, rief Madeleine und schüttelte sie ab.
Ein junger Mann, der in einer Kanalbiegung angelte, hatte sie gehört. Peinlich berührt, wandte sie sich ab und lief den Pfad mit großen Schritten entlang. Zum ersten Mal in ihrem Leben schämte sie sich ihrer Mutter. Sie hatte durchaus bemerkt, dass die Leute in Bath Probleme mit der Fremdartigkeit ihrer Mutter hatten, und Madeleine hatte sie angefleht, auf gar keinen Fall auch noch zu enthüllen, dass sie eine Santera war. In Key West, wo zahlreiche Kubaner lebten, die den Glauben teilten, mochte es angehen, ihn zu praktizieren, aber hier in England würden die Leute Mama, mit der sie sich ohnehin schwertaten, für verrückt halten.
Selbst Papa sah das jetzt anders. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er behauptete, er verdanke seinen Ruhm der rituellen Opferung einer Ziege (die Leute lachten dann nervös, und das gefiel ihm). Aber nun wollte er nicht mehr, dass Mama die Kaurimuscheln warf, und er hatte ihr sogar verboten, Madeleine noch mehr »von dem Unsinn« beizubringen.
Die arme Mama. Jetzt, wo sie ihn am meisten brauchte, schien Papa zu beschäftigt zu sein, um sich mit ihr abzugeben. Er war ständig in London, um sich »mit seinem Agenten zu treffen« (wirklich?) oder Galerien aufzusuchen, die für den Verkauf seiner Arbeiten in Frage kamen. Madeleine hatte insgeheim beschlossen, wieder nach Key West heimzukehren, und sie würde versuchen, ihre Mutter zu überreden, sie zu begleiten. Sie passten nicht nach Bath und würden auch nie hierher passen.
Sie eilte voran, Mama noch immer dicht auf ihren Fersen.
»Hör mir zu, hijita«, rief Rosaria. »Einen Fötus zu töten ist eine Sünde. Es ist Mord.«
Ohne den Schritt zu verlangsamen, presste Madeleine die Hände, die sie in ihren Fäustlingen fest zusammengeballt hatte, an die Ohren. »Hör auf, Mama. Ich hör dir nicht zu.«
»Wenn es um Leben und Tod geht, darf man
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