Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
nicht einfach wählen.«
Madeleine blieb abrupt stehen und wandte sich ihrer Mutter zu. »Erst im vergangenen Jahr hast du einer deiner Freundinnen aus Havanna geholfen. Du hast sie für eine Abtreibung mit zu Esperanza genommen. Ich habe dich belauscht.«
»Das war etwas ganz anderes«, entgegnete Rosaria, das Gesicht finster vor Empörung. »Du bist zu jung, um das zu verstehen.«
»O doch, ich verstehe das sehr wohl. Du bist eine Heuchlerin. Weißt du, was das Wort bedeutet, Mama?«
Rosaria starrte sie an, dann sank sie auf die Knie.
»Lass das, Mama, sei nicht verrückt.« Madeleine trat einen Schritt auf sie zu und ließ den Blick schweifen, aber in dem eisigen Morgenregen lag der Treidelpfad verlassen da. »Nun komm schon, Mama. Steh auf. Es tut mir leid. Ich hab’s nicht so gemeint. Ich weiß, dass du den Leuten bloß geholfen hast.«
»Es ist unser Baby, Magdalena«, wimmerte Mama. »Wir können doch nicht unser Baby umbringen.«
Das brachte das Fass zum Überlaufen. Madeleine stürzte davon. Ihr Ranzen schlug heftig gegen ihren Oberschenkel, ihr Mantel flatterte. Vor der letzten Kanalbiegung hielt sie schuldbewusst an und blickte zurück. Mama kniete noch immer im Schlamm, das lange schwarze Haar um sie ausgebreitet wie ein Umhang, die Hände gefaltet, den Kopf nach hinten gebogen. Dieser gespenstische Anblick ihrer gequälten, gramerfüllten Mutter prägte sich tief in Madeleines Erinnerung ein, und sie wusste, dass ihr Schicksal besiegelt war.
***
Ein plötzlicher Regenguss durchnässte sie, aber die Temperaturen waren mild, und sie verbrannte durch das Laufen noch immer genug Energie, um warm zu bleiben. Sie verlangsamte ihren Gang einen Moment lang, um neben einer Mutterente herzulaufen, die einem halben Dutzend frisch geschlüpfter Entenküken vorausschwamm. Sie waren noch winzige gelbe Flaumbällchen, aber sie flitzten mit einem erstaunlichen Tempo über das Wasser. Kurz darauf kam Madeleine an einem Schwan, den sie kannte, vorbei. Er hatte einen typischen schwarzen Fleck hinten auf seinem Hals.
Näher zu Bath hin lagen schmale Kähne an der Kanalseite aufgereiht. Einige waren unbewohnt, andere das ständige Zuhause von Sonderlingen, und dann war da auch noch die eine oder andere Familie, die bereits früh im Jahr Ferien auf dem Wasser machte. Als Madeleine bei ihrem Haus ankam, hatte der Verkehr eingesetzt. Alles erschien friedlich. Der fremde Mann war nirgends zu sehen, und niemand hatte ihr Haus ausgeraubt.
Mittwochs war ihr Maltag, eine willkommene Erholungspause von den hilfsbedürftigen, kummerbeladenen Menschen in ihrem Leben. Neben ihrer Mutter, Edmund Furie, ihren Patienten und neuen Freunden brauchte sie Zeit und Disziplin, um sich ihrer Malerei zu widmen. Sie vermutete, dass sie irgendwann in der Zukunft erneut hauptberuflich Malerin sein würde, so wie sie das in jüngeren Jahren gewesen war.
Aber die eigenartige Unruhe, die sie in der vergangenen Woche ergriffen hatte, machte es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Sie trödelte herum und erledigte unwichtige Aufgaben im Haus. Es war bereits zwei Uhr, und sie hatte noch immer nicht mit dem Malen begonnen. Als sie schließlich auf dem Weg in ihr Dachatelier war, klingelte das Telefon. Nach einem kurzen Zögern nahm sie den Anruf entgegen.
»Madeleine Frank«, meldete sie sich müde.
»Hallo Madeleine. Hier ist Rob Reese, Gefängnis Rookwood. Tut mir leid, dass ich Sie zu Hause störe. Ich habe versucht, Sie in der Praxis zu erreichen, aber Ihre Sprechstundenhilfe teilte mir mit, dass Sie mittwochs malen.«
»Das stimmt, Rob«, antwortete sie. »Ich bin lediglich Teilzeittherapeutin.«
»Was malen Sie? Ihr Haus?«
»Ameisen.«
Es trat eine Pause ein. »Sie malen Ameisen? Wie?«
»Das ist doch egal.« Madeleine lachte. »Worum geht’s, Rob?«
Rob war der neue Sekretär des Gefängnisdirektors. Im Vergleich zu seiner Vorgängerin, einer niederträchtigen, humorlosen Frau, war er ein Traum.
»Ich wollte es Ihnen bloß rechtzeitig sagen, damit Sie sich für den Freitag etwas anderes vornehmen können. Edmund liegt auf der Krankenstation, und ich bezweifle, dass er bis dahin entlassen sein wird.«
»Warum? Was fehlt ihm?«
»Er ist erkrankt. Die Ärzte wissen nicht so recht, was ihm fehlt, aber er simuliert nicht. Er leidet unter schlimmem Durchfall und Erbrechen. Er hängt am Tropf und ist sehr unruhig und rastlos … Sie wissen schon. Man muss ihn sedieren.«
»O nein, der Arme!«, rief Madeleine voller Mitgefühl und in
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