Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
normalerweise mehrere Monate lang schwer in ihrer Praxis schuften. Am Wochenende würde sie die Gemälde verpacken, und am darauf folgenden Mittwoch wurden sie von Parcel Force abgeholt und nach Chicago transportiert. Wenn Neville zu Besuch kam, würde er sicher stinksauer sein, weil er sich mit den Fotos begnügen musste. Der große Künstler fand, dass er das Recht hatte, einen Tag damit zu verbringen, eine Serie in ihrer Gesamtheit zu beurteilen. Zu diesem Zweck kamen er und Elizabeth einmal pro Jahr nach Bath. Neville verbrachte dann den Tag in Madeleines Atelier und meditierte über das Leben ihrer Ameisen, wobei er sein Urteilsvermögen schluckweise mit einer Flasche Rioja eintrübte.
Währenddessen führte Elizabeth Madeleine zu einem Essen mit viel Alkohol und anschließend zu einer Einkaufstherapie aus. Madeleines Stiefmutter war nur neun Jahre älter als sie selbst und sehr unterhaltsam, und Madeleine hatte ihr schon lange verziehen, dass sie ihrer Mutter Neville weggenommen hatte.
So sehr Madeleine auch versucht hatte, andere Themen als Ameisen zu finden – alles andere erschien ihr reizlos. War nicht alles bereits gemalt worden? Landschaften waren langweilig, abstrakte Bilder zu indifferent. In Key West hatte sie den Versuch unternommen, Porträtmalerin zu werden. Als Tochter von Neville Frank war es leicht gewesen, Aufträge zu bekommen, und ihre Modelle waren von den Ergebnissen begeistert gewesen, aber sie hatte insgeheim gefunden, dass es ihren Porträts an Leben fehlte. Mit Nevilles Segen kehrte sie zu ihrem Lieblingsthema zurück. Ameisenvölker waren lebendig und kraftvoll, und ihre Gemälde spiegelten diese Energie wider. Das Thema lag ihr. Seit sie ein kleines Mädchen war, hatten Ameisen sie fasziniert. Es war, als würde sie von ihrer Dynamik durchpulst werden.
***
Sie kniete auf der heißen, feuchten Erde im Unterholz des riesigen Banianbaums. Der Saum ihres Kleides war bereits schmutzig geworden. Ihre Knie schmerzten, und der Reifen in ihrem Haar war auf ihre klebrige Stirn heruntergerutscht, aber sie bemerkte es nicht. Sie interessierte sich einzig und allein dafür, dass die beiden Arbeiterinnen, die den Zuckerklumpen trugen, sicher das Nest erreichten. Der Zuckerklumpen war schwer (sie hatte ihn für die Ameisen zertreten müssen), und sie mühten sich schon über eine halbe Stunde, ihn die geflieste Stufe hochzutragen. Die Stufen verschwanden fast im Laub.
Die Luftwurzeln des alten Baumes glichen einem Wald aus gefrorenen Wasserfällen, die vom Himmel herabgekommen waren. Der Hauptstamm war im Laufe der Jahrhunderte knorrig geworden, und er hatte einen solchen Umfang, dass es Ewigkeiten dauerte, um ihn herumzugehen. Weit, weit oben in den Ästen hatte der alte Gärtner Angelo ihr ein stabiles Baumhaus gebaut, zu dem eine hölzerne, zwischen Stamm und Ästen angebrachte Wendeltreppe hinaufführte, die in einer Plattform endete. Alte Schiffstaue bildeten eine Reling, und in der Mitte stand eine auf die Größe von Kindern zugeschnittene Hütte. Angelo hatte fast ein Jahr daran gearbeitet, und Papas Freunde wollten alle dort oben sitzen, in Ruhe etwas trinken und den Ausblick genießen. Sie erzählten ihr ständig, was für ein Glück sie habe. Das Problem bestand nur darin, dass sie lieber die Nase in die Erde steckte. Unter dem massigen Baum war der Boden von Pflanzen überwuchert, die sich den Platz streitig machten, und dort in der Erde lebten die Wesen, die ihre Spielkameraden waren.
Die beiden Arbeiterinnen hatten den Brocken zwischen sich genommen und schoben ihn ungeschickt den senkrechten Teil der Stufe hinauf, fielen aber auf halbem Weg wieder hintenüber. Es war ein enormer Sturz. Madeleine stellte sich die Höhe im Verhältnis zu ihrem eigenen Körper vor und konnte ihre Knochen geradezu krachen und ihren Kopf wie ein Ei zerplatzen hören. Aber sie wusste, dass Ameisen andere Körper hatten. Ein solcher Sturz tötete sie nicht. Vielleicht trugen sie Prellungen davon und waren durcheinander, aber sie gaben sich nie geschlagen. Sie rappelten sich wieder auf und starteten einen zweiten Versuch. Fast am Ziel, fielen sie erneut. Madeleine stöhnte mitfühlend und hilflos auf. Warum gingen sie nicht einfach von den Stufen weg und suchten sich einen anderen Weg?
Sie hätte die Ameisen auf ein Blatt locken und in Sicherheit bringen können, aber Papa hatte sie ermahnt, nicht einzugreifen. Er hatte ihr oft erklärt, dass jeder, sogar Ameisen, lernen müsse, dass es so etwas wie
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