Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
einen Gott, der die Probleme für einen löste, nicht gab. Mama hingegen war überzeugt davon, dass sich die Orischas um alle Lebewesen auf Erden kümmerten. Madeleine war erst sieben, aber sie vermutete, dass möglicherweise Papa recht hatte. Jedenfalls brauchten Ameisen keine Hilfe; sie wussten, was sie taten. Sie waren außerordentlich klug und gut organisiert. Seit achtzig Millionen Jahren bauten sie ihre Nester und schleppten Futter dorthin – millionenfach länger, als es Menschen auf der Erde gab.
Sie beugte sich über die Insekten. »Ihr könnt es schaffen«, flüsterte sie ermunternd. »Das wisst ihr.«
Madeleines kleiner Körper spannte sich, und sie hielt den Atem an. Die Ameisen stürzten ab. Sie formierten sich erneut. Beim vierten Versuch probierten sie, den Brocken rückwärts zu ziehen. Plötzlich hatten sie einen guten Halt und kletterten mit dem Hinterteil voran nach oben. Mit überraschender Leichtigkeit zogen sie das Zuckerstückchen hoch, bis eine dritte Arbeiterin herbeigerannt kam, um ihnen zu helfen. Madeleine biss die Zähne zusammen. Sie sah voraus, wohin das führen würde. »Komm nicht dazwischen, du Dummkopf«, rief sie und widerstand der Versuchung, den Störenfried zu entfernen. Die Arbeiterin kannte die von den beiden anderen ausgetüftelte Methode nicht, und sie war in der Tat eine reine Plage. Die beiden Heldinnen zogen schließlich sowohl den Zuckerklumpen als auch den ahnungslosen Neuankömmling die senkrechte Oberfläche hinauf. Doch sie schafften es.
Jubelnd klatschte Madeleine in die Hände, aber nicht leise genug. Einen Moment später erschien Rosarias Kopf über der Hibiskushecke, das Gesicht von roten Blüten umrahmt.
»Magdalena, sieh dich an. Komm sofort rein, Schatz, und setze dich mit Mama unter den Ventilator. Es ist zu heiß draußen. Ich will nicht, dass du auf dem Boden hockst, amorcete. Du weißt nicht, was da herauskriecht und dich beißt.«
Madeleine achtete nicht auf sie. Sie hatte bemerkt, dass sich eine große Gruppe von Ameisen über der Stufe um irgendetwas versammelt hatte. Sie kroch hin, um sich ein Bild zu machen. In der Mitte des Pulks befand sich eine große Rote. Sie mochte die Roten nicht sonderlich. Sie hatte keinen wirklichen Grund dafür; vielleicht, weil sie größer waren und aggressiv sein konnten. Aber in einer Situation wie dieser, mit einer schwarzen Horde konfrontiert, hatte eine einzelne Rote keine Chance.
In einer Mischung aus Entsetzen und Faszination beobachtete sie, wie die Ameise angegriffen wurde. So wenig ihr die Roten auch am Herzen lagen, es tat ihr leid, dass das arme Ding einer solchen Übermacht ausgesetzt war. Die Schwarzen schwärmten über die Rote hinweg, und kurz darauf brach sie zusammen und lag reglos da. Nun ließen sie die Rote in Ruhe. Madeleine beugte sich über sie, um ihre Verletzungen zu begutachten. Papa hatte ihr zum sechsten Geburtstag ein Vergrößerungsglas geschenkt, aber es war verschwunden. Sie wusste, dass Mama es an sich genommen hatte; es lag auf dem kleinen Altar in ihrem Schlafzimmer, letzt hätte Madeleine es wirklich brauchen können. Die Rote lag in einer unnatürlichen Haltung auf der Seite, merkwürdig zusammengerollt. Madeleine bezweifelte, dass sie tot war. Ameisen stellten sich oft tot – vermutlich, damit sie in Ruhe gelassen wurden.
Madeleine hörte Papa Nevilles Auto die Auffahrt hochfahren und richtete sich auf. Sie wäre zu ihm gelaufen, aber sie wollte sehen, ob sich die Rote rettete und ob die Schwarzen ihren Angriff erneuern würden. Vielleicht konnte sie ja dieses eine Mal einschreiten und ihnen den Zugang verwehren, gerade lange genug …
Mama rief wieder nach ihr. Madeleine bedeckte ihre Ohren mit ihren unsichtbaren rosa Ohrschützern. Mamas Stimme konnte nicht durch sie hindurchdringen, aber sie hörte ihren Papa. »Was soll das, Rosaria. Das Kind ist mit seinen Ameisen beschäftigt.«
Er kam zu ihr herüber und sah von oben auf sie herab, den Strohhut schräg auf dem Kopf und die stinkende Zigarre zwischen den Zähnen. »Was gibt’s, kleines Mädchen?«, fragte er.
»Guck mal diese Rote, Papa. Glaubst du, dass sie tot ist?«
Er kniete sich hin, so dass sein Gesicht auf gleicher Höhe mit ihr war. Er roch nach Rum und Zigarrenrauch. »Es ist zu dunkel hier drunter. Ohne meine Brille kann ich das Biest nicht sehen. Legen wir es auf ein Blatt Papier und tragen es in mein Atelier. Du kannst dich an meinen Schreibtisch setzen und es zeichnen.« Er tätschelte ihr den Kopf.
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