Erdbeerkönigin
Kraftfeld, das mich zu ihm hinzog. Manchmal glaube ich, dass ich ihn an jenem heißen Junitag bis ans Ende der Welt begleitet hätte. Etwas an seinem Lächeln erfüllte mich mit einem bedingungslosen Zutrauen, das ich vorher noch nie gespürt hatte. Dabei wäre jemand wie er damals für mich nie in Frage gekommen. Jungen wie Daniel gab es nicht in meinem Leben. Später habe ich mir manchmal vorgestellt, wie es gewesen wäre, gemeinsam mit ihm in die Schule zu gehen. Dabei kamen mir unweigerlich Bilder wie aus einem amerikanischen Highschool-Film in den Sinn: Szenen, in denen Daniel, begleitet von anderen gutaussehenden, selbstbewussten Jungen, durch den Haupteingang der Schule hinaus in die Sonne schreitet. Schnell, beschwingt, sicher. Ich hätte das aus der Schulhofecke, in die ich mich mit anderen schüchternen Mädchen verkroch, bewundernd beobachtet.
Mama stellte nur wenige Fragen, als ich am nächsten Vormittag nach Tante Hedwigs Geburtstag wieder zu Hause eintraf. Ich hatte von Hamburg den Zug genommen und war dann zu Fuß die wenigen Kilometer gelaufen, weil noch kein Bus fuhr. Mama saß im Garten auf der Hollywoodschaukel. Sie hatte mit Steinen beschwerte Zeitungen und Bücher auf den Kissen, dem Tisch und dem Rasen ausgebreitet. Leere Kaffeetassen, Gläser und ein Teller mit Essensresten zeigten mir, dass sie schon sehr lange hier sitzen musste. Aber sie sprang nicht etwa auf und überschüttete mich mit Fragen und Vorwürfen. Es war, als ob Daniels Selbstsicherheit einen schützenden Kokon um mich gesponnen hatte. Mama blickte mir entgegen, als ich das Gartentor öffnete und über den Rasen zu ihr ging. Sie sah sich nach der Thermoskanne um und griff nach einer sauberen Tasse. »Möchtest du auch einen Kaffee?«, fragte sie in einem Tonfall, dem sie eine bemühte Selbstverständlichkeit verlieh.
Ich nickte und ließ mich neben sie auf den Sitz fallen. »Entschuldige bitte, ich hatte kein Geld mehr fürs Telefon. Du hast dir bestimmt Sorgen gemacht.«
Mama nickte und reichte mir die Tasse. »Daniels Eltern haben mir versichert, dass er sehr umsichtig und vernünftig ist. Und wir konnten uns ja durchaus vorstellen, dass Tante Hedwigs Geburtstag für euch sehr langweilig war.«
Sie fragte nicht weiter. Vorerst. Als sie später merkte, wie sehr ich auf Post von Daniel wartete, kam doch die eine oder andere Frage, was an jenem Tag und in jener Nacht geschehen war. Sie hatte sicher Angst, dass ich hätte schwanger werden können. Und sie hat sich gewundert, dass ihre besonnene Tochter in der Großstadt kopfüber mit einem Fremden davongelaufen war. Sie hat immer mal wieder nach Daniel gefragt, und manchmal verrieten mir ihre Fragen, dass sie vermutete, Daniel und ich hätten weiter Kontakt. Heute würde mich interessieren, wie sie Daniel empfunden hat. Damals wollte ich meine Erinnerung an die Zeit mit Daniel mit niemandem teilen. Vor allem nicht mit meiner Mutter.
»Ich wollte dich mit meiner Antwort nicht mundtot machen«, dringt die Stimme von Hubertus in meine Gedanken. Ich blinzle erschrocken und habe ein wenig Mühe, mich wieder in der Gegenwart zurechtzufinden.
Hubertus lächelt mich freundlich an. »Es fällt schwer, über Daniel zu reden. Die vergangenen zwei Wochen liegen für mich wie unter einer dunklen Decke. Ein Gefühl, als wäre ich gegen eine Mauer gelaufen.« Er nickt mir verlegen zu.
»Aber das weißt du ja bestimmt selbst. Dir geht es ja nicht anders.«
Ich erwidere sein Lächeln. Eigentlich möchte ich rufen: »Nein, ich weiß nicht, wie sich der Verlust von Daniel anfühlt. Ich habe ihn nur flüchtig gekannt. Ich kann deinen Schmerz nicht ermessen. Außerdem habe ich mit meinem eigenen Schmerz um Mama genug zu tun.« Aber ich blicke wie er über das dunkle Wasser und schweige.
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5 . Kapitel
Welchen Ort sollte Deiner Meinung nach jeder vor seinem Tod unbedingt besucht/gesehen haben?
(Gesprächsstoff: Original)
Freitag, Tag 3
I n einer Kommode im Korridor habe ich blau-weiß gestreifte Leinenbettwäsche gefunden. Die dazugehörigen Kissen und eine Daunendecke lagen im obersten Fach des Schlafzimmerschranks. So wurde das Sofa im Wohnzimmer mein Bett. Nur für wenige Sekunden hat es sich heute noch fremd angefühlt, in Daniels Wohnung aufzuwachen. Dann überwog ein anderes Gefühl. Ich lag unter der warmen Decke, streckte mich und dachte nur noch eins: Ich habe es tatsächlich getan. Ich bin abgehauen. Die Welt dreht sich trotzdem weiter, und mein schlechtes Gewissen regt
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