Erlösung
meisten begehrte und schätzte, blickte einem ins Gesicht und alles, was einmal gewesen sein mochte, war einfach fort. Zum ersten Mal wurde mir die Tragweite meiner Gabe vor Augen geführt. Ich realisierte am eigenen Leib, dass es schon verheerend sein konnte wenige Erinnerungen zu verlieren. Doch die Auswirkung eines kompletten Gedächtnisverlustes war so immens, dass es einem buchstäblich die Luft rauben konnte und auch wenn ich sie nicht zum Leben benötigte, so hatte ich dennoch das Gefühl, ersticken zu müssen.
„Auf Wiedersehen.“ Ich erhielt ein flüchtiges, fast schon entschuldigendes Lächeln, dann drehte sich Evelyn schließlich um. Ashton ließ mich ebenfalls los und wandte seinen erhabenen Blick von mir ab. Am liebsten hätte ich ihm auf der Stelle den Schädel eingeschlagen, stattdessen stopfte ich meine geballten Fäuste in die Hosentaschen. Ich beobachtete, wie die beiden auf den Gang hinaustraten, um Evelyns Vater zu begrüßen. Obwohl sie ihn sicherlich ebenfalls nicht wiedererkannte, konnte sie mit ihm vertrauter umgehen als mit mir. Bei ihm konnte sie anscheinend akzeptieren, dass er in ihr Leben gehörte. Gut, vielleicht hatte er ihr Geschichten aus ihrer Kindheit erzählt, ihr Fotos der Familie präsentiert… alles Dinge, mit denen ich nicht dienen konnte, weil unsere Liaison geheim geblieben war. Wer hätte gedacht, dass mich das nun soviel kosten würde. Ich versuchte das freundliche Geplänkel auf dem Flur auszublenden, um nicht noch wütender zu werden. Als sich alle drei schließlich entfernten, verließ auch ich den Raum. Sie gingen zu den Fahrstühlen am Ende des Korridors und ich starrte ihnen unwillkürlich nach. Alles in mir wollte ihr nachlaufen, aber ich blieb regungslos an meinem Platz. Schlussendlich musste ich zusehen, wie dieser Mistkerl Richard Ashton ihre Hand ergriff und ihr die Tasche abnahm. Wie sie sich bei ihm einhakte und mit ihm in den Aufzug stieg. Gegen ihren Vater oder ihre Familie hatte ich nichts, doch dieser anmaßende Brite sollte nun der Mann an Evelyns Seite sein? Einfach so?
Die Antwort blieb natürlich aus, denn ob es mir passte oder nicht, ich würde es vorerst nicht ändern können. Die Türen des Fahrstuhls schlossen sich und mit ihnen verschwand meine Liebe. Möglicherweise ist es besser so, versuchte ich mir selbst einzureden. Sie würde so wenigstens ein normales Leben führen können; mit einem normalen Mann, einem normalen Job, womöglich mit normalen Kindern und das ganze in einem normalen Haus.
„ Normal “, knurrte ich. Evelyn hatte mehr verdient, aber im Augenblick war es wohl nicht das, was sie wollte. Ich würde also das tun, was ich Evelyn gesagt hatte; jeden Abend, jede Nacht würde ich in der Ruine ausharren und auf sie warten.
Es vergingen zweihundertdreißig Tage, aber die Erinnerungen kamen nicht zurück.
Das Ende eines Anfangs
Die Nacht war kühl und der Himmel beinahe wolkenlos. Ich starrte nach oben, aber das Funkeln der Sterne vermochte meinen unsäglichen Schmerz nicht zu lindern, den ich nun schon seit so vielen Wochen empfand. Ich hatte mein Versprechen gehalten, denn ich war jede Nacht in diesem heruntergekommenen Herrenhaus gewesen, so wie auch an diesem Tag. Irgendwann würde sich Evelyn an unsere gemeinsame Zeit erinnern können, da war ich mir immer noch sicher. Der Gedanke, dass es nicht so sein könnte, hätte mich bloß um den Verstand gebracht, weil ich inzwischen wusste, wie furchtbar meine Gabe war. Wie schlimm es für diejenigen sein musste, die zurückblieben. Die mit ansehen mussten, wie sich ihre einstige Liebe nicht mehr an sie erinnern konnte. Wie damalige Empfindungen einfach ausgelöscht waren und in jenem Fall nie mehr zurückkommen würden, denn meine Fähigkeit war unwiderruflich. Wenn ich ein Gedächtnis löschte, dann verschwand auch alles andere. Wie fühlte sich wohl ein Vater, dessen Kind ihn nicht mehr erkannte? Oder was empfand ein Sohn, wenn seine Mutter ihn ansah und dabei keine Liebe mehr in ihrem Blick lag? Ich stieß einen tiefen Seufzer aus und kehrte ins Innere der Ruine zurück. Das Feuer im Kamin war beinahe erloschen, also legte ich ein weiteres Holzscheit nach, um es erneut zu entfachen. Nicht dass ich es benötigt hätte, aber ich wollte, dass es für Evelyn brannte, falls sie kam. Sie sollte sich daran wärmen können, so wie sie es immer getan hatte, als wir uns hier getroffen hatten. Die Bilder kehrten in mein Bewusstsein zurück und der Kummer über das
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