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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schnitzler
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du bist frei.« Und er wandte sich wie zum Abschied von ihr fort.
    In demselben Augenblick warf Dionysia die Decke ab, eilte zum Fenster, riß es auf, und wäre Erasmus nicht herzugeeilt, so hätte sie im nächsten Augenblick zerschmettert in der Tiefe liegen müssen.
    »Unglückliche!« rief er aus, die Zitternde in den Armen haltend, »was wolltest du tun?«
    »Ein Leben enden, das mir nichts mehr wert ist, da ich dein Vertrauen verloren habe.«
    Erasmus' Lippen berührten die Stirne der Gattin, die in seinen Armen die Besinnung zu verlieren schien, und er atmete tief.
    Mit einem Male lösten sich aus dem Schweigen des Tales, das im Morgengrauen dalag, liebliche Töne. Dionysia öffnete die Augen, sie horchte auf, und ihre Züge, eben noch wie in verzweifelter Müdigkeit erschlafft gewesen, spannten neu sich an. Erasmus gewahrte es und entließ Dionysia sofort aus seiner Umarmung. »Erkennst du, was eben zu uns herauf klingt?« fragte er. »Es sind die Töne einer Hirtenflöte. Und siehe, ohne daß du es dir gestehen möchtest, ja, ohne daß du dir dessen so recht bewußt wärst, regt sich in dir, die soeben bereit war in den Tod zu gehen, die Neugier, zu erfahren, an welchen Lippen die Flöte ruht, der diese Töne entklingen. So ist es denn Zeit für dich, Dionysia, ganz zu erfassen, was du früher vielleicht nicht fassen konntest: daß du frei bist. Folge dieser ersten Lockung, die an dich ergeht – und jeder andern, die noch kommen mag, gerade so wie dieser. Zieh hin, Dionysia, dein Schicksal zu erfüllen, ganz du selbst zu sein.«
    Mit wehem Erstaunen wandte Dionysia den Blick ihrem Gatten zu.
    »Zieh hin,« wiederholte Erasmus entschiedener als vorher. »Dies ist mein letzter Befehl an dich. Vielleicht bedeutet dieser Flötenton die einzige Lockung, der zu unterliegen du bestimmt bist, vielleicht die erste nur von wenigen oder vielen. Vielleicht ruft eine andere dich in der nächsten Stunde schon zurück nach Hause, vielleicht erscheinst du in Jahren, vielleicht niemals wieder. Des einen aber sei eingedenk: wann du auch wiederkehrest und mit welchen Erinnerungen beladen, – Bett, Gewand und Wohnstatt warten deiner; keine Frage und kein Vorwurf wird dich kränken, und ich selbst werde dich nicht anders empfangen als an dem Abend, da du als meine junge Gattin über diese Schwelle tratest. Und nun, Dionysia, leb wohl.« Mit diesen Worten und einem letzten Blick wandte er sich ab, schritt zur Tür hin, schloß sie hinter sich ab und wandelte langsam die Treppe hinauf, nach seinem Turmgemach. Noch nicht lange stand er oben an der kleinen Fensterluke, die Augen talwärts gewandt, als er sah, wie seine Gattin in einem seltsam schwebenden Gang, den er nie an ihr gekannt hatte, über die Wiese eilte, dem nahen Walde zu, aus dessen Schatten das Flötenlied ihr entgegenklang. Bald verschwand sie unter den Bäumen, und in der nächsten Minute hörte Erasmus die Flöte verstummen.

II

    Der junge Hirte, der unter einem Baum liegend durch die Blätter zum Blau des Himmels emporgeblinzelt hatte, ließ die Flöte von den Lippen sinken, als er ein Rauschen in seiner Nähe vernahm. Er war nicht wenig erstaunt, da er eine junge Frau im weißen, wallenden Nachtgewand mit bloßen Füßen vor sich im Moose stehen sah. »Was willst du?« fragte er. »Warum blickst du mich so böse an? Ist es etwa nicht gestattet, hier zu früher Stunde Flöte zu blasen? Habe ich dich aus deinem Morgenschlummer erweckt? So wisse, ich bin es gewohnt, mit der Sonne aufzustehen und zu blasen, wann es mir beliebt. Und dabei wird es bleiben, das glaube mir.« Mit diesen Worten schüttelte der Hirte das Haupt, so daß die Locken flogen, streckte sich wieder der Länge nach hin, blinzelte in die Höhe und setzte die Flöte an den Mund.
    »Wer bist du?« fragte Dionysia bewegt.
    Ärgerlich setzte der Jüngling die Flöte ab und erwiderte: »Es dürfte nicht schwer zu merken sein, daß ich ein Hirte bin.« Und er blies weiter.
    »Wo ist deine Herde?« fragte Dionysia.
    »Siehst du es nicht dort zwischen den Baumstämmen weiß zu uns herschimmern? In jener Lichtung weiden meine Schafe. Aber ich rate dir nicht, nahe hinzugehen, denn sie sind scheu und fliehen nach allen Windrichtungen, wenn sie Fremde in ihrer Nähe spüren.« Und wieder wollte er die Flöte an seine Lippen setzen.
    »Wie kommst du in diese Gegend?« fragte Dionysia. »Ich kenne dich nicht.«
    Jetzt sprang der Jüngling auf und erwiderte zornig: »Ich ziehe mit meiner Herde durch das ganze

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