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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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fünfundsechzig oder siebzig Jahren angehörte.
    Ich habe in meinem ganzen Leben kein zweites gesehen, das ihm auch nur im entferntesten glich. Aber ich erinnere mich sehr wohl, daß gleich mein erster Gedanke bei seinem Anblick war, daß jeder Maler, der nur immer den Teufel malte, dies Gesicht allen künstlerischen Darstellungen des Satans vorgezogen haben würde.
    Ich bemühte mich sofort, noch während der ersten flüchtigen Prüfung, den Eindruck, den ich da empfing, etwas zu zergliedern und es erhoben sich in meinem Kopfe die verwirrten und sich widersprechenden Vorstellungen von großer geistiger Kraft, von Vorsicht, Armut, Geiz, von Kälte, Bosheit, Blutdurst, von Hohn, ausgelassenster Lustigkeit und tiefstem Schrecken, rasendster Verzweiflung. Ich fühlte mich sonderbar gefesselt, ergriffen, aufgeregt. »Welch seltsame Geschichte«, sagte ich mir, »muß in dem Buche dieses Herzens geschrieben stehen.« Und plötzlich faßte mich das unwiderstehliche Verlangen, den Mann im Auge zu behalten, mehr von ihm zu erfahren.
    Ich zog eiligst meinen Überrock an, ergriff Stock und Hut, bahnte mir meinen Weg auf die Straße hinaus und drang in der Richtung, die der Mann genommen hatte, durch die Menge vor; denn er selbst war inzwischen meinen Blicken natürlich entschwunden. Doch schon bald erblickte ich ihn wieder, näherte mich und folgte ihm aber so vorsichtig, daß er mich nicht bemerkte.
    Ich hatte nun die beste Gelegenheit, seine ganze Erscheinung zu mustern. Er war von sehr kleiner Statur, sehr mager und äußerst schwächlich. Seine Kleider schienen im allgemeinen schmutzig und zerlumpt, jedoch bemerkte ich, als er zufällig unter das Licht einer Gaslaterne kam, daß seine Wäsche, wenn auch gleichfalls unsauber, doch von gutem Gewebe war; auch glaubte ich durch einen Schlitz seines sonst fest zugeknöpften und wahrscheinlich aus zweiter Hand erstandenen Regenmantels einen Diamanten und einen Dolch aufschimmern zu sehen. Dies erhöhte noch meine Neugierde, und ich beschloß, dem Unbekannten zu folgen – wohin er auch gehen wurde.
    Es war mittlerweile vollständig Nacht geworden, und über der Stadt lag ein dichter, feuchter Nebel, der bald als heftiger Regen niederschlug. Die Veränderung des Wetters hatte eine seltsame Wirkung auf die Menge, die plötzlich in eine ganz neue Bewegung geriet und von einem Wald von Regenschirmen überdacht wurde. Das Schwanken, das Stoßen und Gesumme schien noch zehnmal stärker zu werden. Ich selbst machte mir nicht viel aus dem Regen; mein überstandenes Fieber brannte mir noch im Körper und ließ mich die kühle Feuchtigkeit verlockend und angenehm empfinden. Und so schützte ich mir denn den Mund mit einem Taschentuch und hielt tapfer aus.
    Eine halbe Stunde bahnte sich der alte Mann mühsam seinen Weg durch die belebte Hauptstraße, und aus Furcht, ihn zu verlieren, folgte ich ihm fast auf dem Fuße. Doch er bemerkte mich nicht, da er sich nicht ein einziges Mal umwandte.
    Endlich bog er in eine Querstraße ein, die, obwohl auch noch sehr belebt, doch nicht so überfüllt war wie die Hauptstraße, die wir eben verlassen hatten. Und bald bemerkte ich, daß sich in dem Benehmen meines Mannes eine Änderung vollzog: er ging langsamer, unbestimmter, unschlüssiger, als habe er kein rechtes Ziel. Ohne ersichtlichen Zweck schritt er ein paarmal von der linken Straßenseite zur anderen hinüber und wieder zurück und wieder hinüber und wieder zurück. Das Gedränge war auch hier noch immer so groß, daß ich mich dabei immer ganz dicht hinter ihm halten mußte. Die Straße war sehr eng und lang, und bis wir an ihr Ende kamen, verging fast eine Stunde. Doch nahm die Menge der Passanten jetzt nach und nach ab. Eine Biegung der Straße führte uns über einen hellerleuchteten Platz, auf dem ein verhältnismäßig regeres Leben auf und nieder wogte. Und gleich nahm der Unbekannte wieder seine anfängliche Haltung an. Das Kinn sank tiefer auf die Brust herab, während seine Augen unter den zusammengezogenen Brauen nach allen Richtungen hin wilde Blicke auf die schleuderten, die ihm hemmend in den Weg kamen. Den Weg selbst aber verfolgte er mit unerschütterlicher Beharrlichkeit. Als er jedoch die Runde um den Platz gemacht hatte, sah ich mit Erstaunen, daß er den Kreislauf von neuem begann und dann wieder und immer wieder von neuem, wobei er mich einmal bei einer raschen Wendung fast entdeckt hätte.
    So kreiste er eine ganze zweite Stunde herum, gegen deren Ende wir immer weniger

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