Erzählungen
Tragweite der erhaltenen Kenntnis liegt nicht so sehr in der Gültigkeit des Schlusses als in dem Wert der Beobachtung. Das Wichtigste ist, zu wissen, was man zu beobachten hat. Der Spieler, den ich hier im Sinne habe, beschränkt sich nicht auf das Spiel allein und verwirft keine Schlüsse, die außerhalb desselben liegen, aus dem bloßen Grunde, weil das Spiel der hauptsächlichste Gegenstand seiner Aufmerksamkeit ist. Er studiert den Gesichtsausdruck seines Partners und vergleicht ihn sorgfältig mit dem der Gegner. Er beachtet die Art und Weise, in der die Karten in der Hand geordnet werden, und zählt oft Trumpf auf Trumpf, Honneurs auf Honneurs an den Blicken nach, mit denen ihr Besitzer sie betrachtet. Während das Spiel seinen Lauf nimmt, beobachtet er jede Veränderung des Gesichtes und sammelt aus dem verschiedenen Ausdruck von Sicherheit, Überraschung, Triumph oder Ärger eine Fülle von Gedanken über das jeweilige Spiel.
Aus der Art und Weise, wie jemand einen Stich aufnimmt, schließt er, ob die betreffende Person noch einen anderen in derselben Farbe machen kann. Er erkennt an der Miene, mit der jemand die Karte auf den Tisch wirft, ob er mogelt. Ein gelegentliches oder unbedachtes Wort, das zufällige Fallen oder Umwenden einer Karte, die Ängstlichkeit oder Sorglosigkeit, die diesen Vorgang begleitet, das Zählen der Stiche, ihre Anordnung, ferner Verwirrung, Zögern, Hast, Bestürzung, alles dient seiner scheinbar intuitiven Erfassung vom Stande der Dinge als Symptom und Erkennungszeichen. Wenn die zwei oder drei ersten Runden gespielt worden sind, kennt er die Karten von jedem der Mitspielenden und gibt von da ab seine eigenen mit so unfehlbar sicherer Berechnung aus, als spiele die übrige Gesellschaft offen.
Die Fähigkeit zur Analyse darf nicht mit bloßer Klugheit verwechselt werden; denn während der Analytiker unbedingt klug ist, hat der kluge Mann oft auffallend wenig Begabung für Analyse. Die aufbauende und berechnende Kraft, durch welche sich die Klugheit gewöhnlich äußert – und der die Phrenologen, ich glaube irrtümlicherweise, ein besonderes Organ zugeschrieben haben, da sie dieselbe für eine eingeborene Fähigkeit hielten –, ist so oft bei Menschen, deren Verstand im übrigen an Blödsinn grenzte, beobachtet worden, daß diese Tatsache unter Moralschriftstellern Aufsehen erregte. Zwischen Klugheit und analytischer Fähigkeit besteht ein viel größerer Unterschied als zwischen Phantasie und Einbildungskraft, obwohl er von vollständig analogem Charakter ist. Man wird in der Tat immer finden, daß die klugen Menschen phantasiereich und die mit wirklicher Einbildungskraft begabten stets Analytiker sind.
Die folgende Erzählung wird dem Leser viel eicht in mancher Beziehung eine Erläuterung zu den eben aufgestel ten Behauptungen sein.
Während meines Aufenthaltes in Paris im Frühling und Sommer des Jahres .. machte ich die Bekanntschaft eines Herrn August Dupin. Der junge Mann stammte aus einer guten, ja aristokratischen Familie, doch war er durch verschiedene widrige Ereignisse in solche Armut geraten, daß seine ganze Willenskraft in ihr unterging und er gar keine Anstrengungen mehr machte, sich wieder in glücklichere Verhältnisse heraufzuarbeiten. Seine Gläubiger ließen aus Anständigkeit einen kleinen Teil seines väterlichen Erbteils in seinen Händen, von dessen Zinsen er gerade sparsam leben konnte.
Bücher waren der einzige Luxus, den er sieh erlaubte; und in Paris kann man sich diesen leicht gestatten.
Wir trafen uns zum erstenmal in einer kleinen Buchhandlung in der Rue Montmartre, wo uns ein Zufall – wir suchten beide dasselbe sehr seltene und merkwürdige Buch – in nähere Beziehung brachte.
Wir sahen uns des öfteren wieder. Ich interessierte mich lebhaft für die kleine Familiengeschichte, die er mir mit der ganzen Aufrichtigkeit, mit welcher der Franzose von seinem eigenen Ich spricht, erzählte. Auch war ich über seine große Belesenheit erstaunt, und vor allem fühlte ich, wie meine Seele von der urwüchsigen Kraft und seltenen Üppigkeit seiner Phantasie mit entflammt wurde. Ich verfolgte damals ganz bestimmte Ziele in Paris und sagte mir, daß die Gesellschaft eines solchen Mannes zur Erreichung derselben von unermeßlichem Nutzen sein mußte. Ich teilte ihm dies auch offenherzig mit.
Schließlich kamen wir überein, während meines Aufenthaltes in Paris zusammen zu wohnen; und da meine Verhältnisse weniger beschränkt waren als die
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