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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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ihn seine kleine Statur zum Tragöden untauglich mache!?«
    Über diesen Punkt hatte ich allerdings soeben nachgesonnen.
    Chantilly war ein ehemaliger Schuhflicker aus der Rue St. Denis, der in einem Anfall von Theaterwut versucht hatte, die Rolle des Xerxes in Crébillions gleichnamiger Tragödie zu spielen und für seine Mühe nur bitteren Hohn geerntet hatte.
    »Erklären Sie mir um Himmels willen«, rief ich aus, »die Methode – wenn Sie methodisch vorgegangen sind –, mit der Sie meine Seele derart erforschen konnten.« Ich war in Wirklichkeit noch verblüffter, als ich zeigen wollte.
    »Der Fruchthändler«, versetzte mein Freund, »veranlaßte Sie zu dem Schluß, der Sohlenflicker sei nicht groß genug für einen Xerxes und die ganze Reihe ähnlicher Rollen.«
    »Der Fruchthändler? Wieso? Ich kenne gar keinen.«
    »Ich meine den Mann, der Sie beim Einbiegen in die Straße anrannte. Es ist vielleicht eine Viertelstunde her.«
    Jetzt erinnerte ich mich, daß ich in der Tat von einem Fruchthändler, der einen großen Korb Äpfel auf dem Kopfe getragen hatte, fast umgerannt worden wäre, als wir aus der Rue C. in den Durchgang einbogen, in dem wir jetzt standen. Aber was dies mit Chantilly zu tun hatte, war mir nicht klar.
    Dupin war jedoch so wenig Scharlatan wie nur irgend jemand. »Ich will Ihnen die Sache erklären«, sagte er, »und damit Sie alles recht verstehen, wollen wir den Lauf Ihrer Gedanken zurückverfolgen, von dem Augenblick an, da ich Ihre Betrachtungen unterbrach, bis zu dem Zusammenstoß mit dem Fruchthändler. Die Hauptglieder der Kette sind folgende: Chantilly, Orion, Dr. Nichols, Epikur, Stereotomie, das Straßenpflaster, der Fruchthändler.«
    Es gibt wenig Leute, die sich nicht zuweilen damit amüsiert hätten, die Schritte zurückzuverfolgen, durch die ihr Verstand zu irgendwelchen Schlüssen gekommen ist. Die Beschäftigung kann sehr interessant sein; und mancher, der sich zum erstenmal in ihr versucht, ist höchst erstaunt über die scheinbar unendliche Entfernung zwischen dem Ausgangspunkt und dem Endpunkt seiner Gedanken und die Unzusammengehörigkeit beider. Groß war auch mein Erstaunen, als ich nun die Ausführungen des Franzosen vernahm und zugeben mußte, daß er die Wahrheit sprach. Er fuhr fort:
    »Wir hatten, wenn ich mich recht erinnere, kurz ehe wir die Rue C. verließen, von Pferden geredet. Das war unser letzter Gesprächsstoff. Als wir in diese Straße einbogen, eilte ein Fruchthändler mit einem großen Korbe Äpfel auf dem Kopfe rasch an uns vorüber und drängte Sie dabei auf einen Haufen Pflastersteine, die an einer Stelle, wo der Fußsteig ausgebessert wird, aufgeschüttet lagen. Sie traten auf einen der losen Steine, glitten aus, verstauchten sich ganz leicht den Fuß, schienen verärgert oder verstimmt, murmelten ein paar Worte, blickten sich nach dem Steinhaufen um und gingen dann schweigend weiter. Ich schenkte Ihnen keine weitere Aufmerksamkeit, nur ist mir seit einiger Zeit das Beobachten zur Notwendigkeit geworden: Ich nahm also wahr, daß Sie Ihre Blicke zu Boden gesenkt hielten, mit unmutigem Ausdruck die Löcher und Spalten im Pflaster betrachteten, woraus ich schließen mußte, daß Sie noch an die Steine dachten, bis wir die kleine Lamartinestraße erreichten, die versuchsweise mit gerippten, fest übereinandergreifenden Steinen gepflastert ist. Hier hellte sich Ihr Gesicht auf, und als ich sah, daß Sie die Lippen bewegten, konnte ich nicht zweifeln, daß Sie das Wort ›Stereotomie‹ flüsterten, – übrigens ein ziemlich anspruchsvoller Name für diese einfache Art von Pflasterung. Ich wußte, daß Sie das Wort nicht aussprechen konnten, ohne an Atome und weiter an die Lehre Epikurs denken zu müssen, und da ich zu Ihnen, als wir vor kurzem über diesen Gegenstand redeten, bemerkt hatte, wie wunderbar die vagen Vermutungen dieses edlen Griechen von den neueren Entdekkungen der Nebular-Kosmogonie bestätigt worden seien, erwartete ich mit Gewißheit, daß Sie zu dem großen Nebel im Orion aufblikken würden. Sie taten es, und ich war sicher, Ihrem Gedankengange richtig gefolgt zu sein. In dem bitteren Spottartikel über Chantilly, der gestern im ›Musée‹ erschien, machte der Satiriker einige verächtliche Anspielungen auf die Namensveränderung, die der Schuhflicker beim Besteigen des Kothurn vorgenommen, und führte einen lateinischen Vers an, über den wir oft gesprochen hatten. Ich meine die Zeile: ›Perdidit antiquum litera prima

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