Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Europa-Handbuch - Europa-Handbuch

Europa-Handbuch - Europa-Handbuch

Titel: Europa-Handbuch - Europa-Handbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Weidenfeld
Vom Netzwerk:
kommunistische Indoktrination, was dazu führte, dass die Esten um das Überleben auf ihrem eigenen Territorium bangten.
    1991 war Estland eine multi-ethnische Gesellschaft, gekennzeichnet von sprachlichen und ideologischen Brüchen. Die Estnisch sprechenden Einwohner begrüßten die Unabhängigkeit, während die Russisch sprechenden Einwohner dazu neigten, sich über ein Leben in einem fremden Land Sorgen zu machen, und »der guten alten Zeit« der UdSSR und der KPdSU nachtrauerten. Am Anfang überließ Tallinn die Russisch sprechenden Einwohner sich selbst. Erst nachdem ein entsprechendes Bürgerschaftsgesetz im Februar 1992 verabschiedet worden war, begannen ab Mai die Einbürgerungen. Mitte der 1990er Jahre begriff Tallinn jedoch, dass viel mehr für die Integration der russischsprachigen Bevölkerung getan werden musste. 1995 wurde das Bürgerschaftsgesetz modifiziert, um mehr dem EU-Standard zu entsprechen. Seit 1996 dürfen Nichtbürger bei lokalen Wahlen wählen, jedoch nicht für ein Amt kandidieren.
    Ein Haupthindernis bei der gesellschaftlichen Integration und Einbürgerung waren die unzureichenden Kenntnisse der estnischen Sprache. Deshalb gibt es mittlerweile viele Programme und Anreize, das Erlernen des Estnischen zu erleichtern. Zudem wurde ein spezielles Programm für die überwiegend Russisch sprechende nordöstliche Region, die besonders unter der postsowjetischen Rezession gelitten hat, aufgesetzt. Ohne großzügige finanzielle und professionelle Hilfe aus dem Ausland hätten die Programme nicht umgesetzt werden können. 3 1997 beendete der Europäische Rat seine Überwachung von Estlands Einhaltung der Menschen- und Minderheitenrechte. Die OSZE folgte diesem Beispiel erst drei Jahre später. Im Jahre 2000 waren 80 Prozent der Bevölkerung estnische Bürger. Moskau kritisiert weiterhin Estlands Behandlung der Russisch sprechenden Bevölkerung und koppelt deren Schicksal an die Unterzeichnung eines russisch-estnisches Grenzvertrages, der seit 1997 zur Unterschrift vorliegt. Russische Politiker haben diese Situation genutzt, um bestimmte Themen auszuhandeln, in dem klaren Wissen, dass vertraglich gesicherte Grenzen normalerweise Voraussetzung für eine Mitgliedschaft in der EU und in der NATO sind.

2.3 Wirtschaftliche Entwicklung
    Geleitet von der Idee einer einheitlichen UdSSR haben die sowjetischen Planer in Moskau Estlands frühere autarke und vorwiegend landwirtschaftliche Volkswirtschaft in eine hauptsächlich industrielle Wirtschaft umgewandelt, die gänzlich von der UdSSR abhängig war. Der Privatsektor wurde zurückgedrängt. Estland entwickelte sich zu einer der fortschrittlichsten und reichsten Republiken der UdSSR. 1990 zerfiel die sowjetische Wirtschaft. Deshalb war Estland 1991 nicht nur dazu gezwungen, seine Wirtschaft neu zu orientieren und zu restrukturieren, sondern auch eine Rezession zu überwinden.
    Da estnische Volkswirte in den späten 1980er Jahren schon verschiedene Pläne im Hinblick auf eine weitergehende wirtschaftliche Unabhängigkeit erörtert hatten, war Tallinn 1991 bereit, eine schnelle Liberalisierung der Wirtschaft durchzuführen. Am 20. Juni 1992 führte Premierminister Tiit Vähi eine Währungsreform durch und ersetzte den sowjetischen Rubel durch die estnische Kroon. Trotz ihrer Anbindung an die Deutsche Mark und eines festen Wechselkurses von 8 EEK für 1 DM ist die Kroon seit ihrer Einführung völlig konvertibel. In der Folge ging Estlands hohe Inflationsrate zurück. Derzeit bereitet sich Estland auf die Einführung des Euro im Jahr 2006 vor.
    Die Privatisierung der ersten großen Staatsbetriebe wurde im Oktober 1992 bekannt gegeben und in der Folge auch gleich umgesetzt. Reguliert wurde dieser Prozess durch die Estnische Privatisierungsagentur (EPA), die nach dem Vorbild der deutschen Treuhand gegründet worden war. Als Erstes wurden Wohneigentum, Einzelhandelsgeschäfte und landwirtschaftlich genutztes Land privatisiert. 1996 hatten ungefähr 15 000 private Bauernhöfe die Kolchosen ersetzt, und bis 1997 hatten die meisten Unternehmen neue Besitzer gefunden. Im Frühjahr 2001 machten verfahrensrechtliche Unregelmäßigkeiten bei der Privatisierung der estnischen Eisenbahnen eine Untersuchung notwendig; einige Ungereimtheiten konnten noch immer nicht beseitigt werden.
    Der Privatisierungsprozess förderte die Modernisierung und Umstrukturierung der estnischen Volkswirtschaft. Deshalb gab es in den Jahren 1990 bis 2000 einen steilen Anstieg im

Weitere Kostenlose Bücher