Falsch
Vincente durch Mark und Bein. »Manchmal auch noch länger. Ein Festmahl für die Vögel, aber kein schöner Anblick.«
Vincentes Blick irrte über die Bilder. Totenköpfe grinsten auf ihn herab, leere Augenhöhlen starrten ihn an.
Es war ein Fehler gewesen, hierherzukommen, ein großer Fehler.
»Siehst du das Bild ganz oben, mit dem abgeschlagenen Kopf zwischen den Säcken und der Waage?« Das Flüstern füllte wieder den Raum. »Kapitän Guillaume Le Testu, ein französischer Pirat aus Le Havre, der im 16. Jahrhundert die Karibik unsicher machte. Er ging mit Sir Francis Drake auf Raubzug, und sie erbeuteten so viel Gold, dass sie es nicht mehr tragen konnten und den größten Teil vergraben mussten. Im Jahr 1572 dann wurde Le Testu verwundet, von spanischen Soldaten überfallen und geköpft. Sein Schädel wurde am Marktplatz von Nombre de Dios ausgestellt, nahe der Mündung des Rio Chagres.«
Der Druck der Spitze an Vincentes Hals war mit einem Mal weg, nur um einen Augenblick später durch die rasiermesserscharfe Schneide des Säbels an seinem Adamsapfel ersetzt zu werden. Vincente spürte ein paar Bluttropfen über seine Gurgel rinnen und wagte es nicht, den Kopf zu drehen. Die Erhängten tanzten vor seinen Augen.
Dann erlosch die Flamme des Streichholzes.
»Wo sollen wir deinen Kopf ausstellen, mein stummer Freund?«
Diesmal blieb das Kichern aus.
»Das hier ist vielleicht ein falsches Schiff in einem falschen Jahrhundert, und es segelt nur in meiner Phantasie. Aber der Tod ist der Freund aller Piraten. Er kommt noch immer schnell, wenn man ihn ruft.«
In seiner Phantasie sah Vincente seinen Kopf bereits zwischen den Blumentöpfen auf dem Dach stehen, über Besucher wachend und langsam von der Sonne ausgebleicht. Ein unbekanntes Gefühl des Terrors breitete sich in seinem Magen aus, und ihm wurde schlecht. Das riss ihn aus seiner Erstarrung, und er stieß einen Laut aus, der eine Mischung aus Verzweiflungsschrei und Aufheulen war. Augenblicklich verschwand die Klinge von seinem Hals und ein Gesicht, umrahmt von wirr abstehenden weißen Haaren, tauchte aus dem Dunkel auf, neugierig und ein wenig besorgt. Wache Augen betrachteten aufmerksam den Jungen, dem der Angstschweiß auf der Stirn stand.
»Du siehst nicht wie ein gewöhnlicher Einbrecher aus«, murmelte der alte Mann und ließ den Säbel sinken. »Was willst du hier?«
»Keine Gefangenen! Keine Gefangenen!«, kreischte die Stimme über Vincentes Kopf.
»Gib Ruhe, Jack Sparrow!«, fuhr der Mann den Papagei an, der auf einer Stange unter der Decke hin und her spazierte.
» Captain Jack Sparrow!«, kreischte der Vogel, flog auf und landete elegant auf der Schulter seines Besitzers.
Vincente sah das Paar mit großen Augen an. Der alte Mann wartete noch immer auf eine Antwort, und die Spitze des Säbels schwebte drohend in Bauchhöhe. Verzweifelt deutete der Junge mit ausgestrecktem Zeigefinger auf seinen offenen Mund. Dann machte er einige Zeichen in der Gebärdensprache.
»Du bist stumm?«, fragte Señor Botero, und Vincente nickte erleichtert. »Freu dich nicht zu früh, Buccaneer. Ich bin auf der Hut. Kannst du schreiben?« Wieder nickte der Junge und atmete tief aus, als der alte Mann mit einer fließenden Bewegung den Säbel in einer glänzenden Scheide verschwinden ließ, die er an der Hüfte trug. »Dann komm herein, ich habe Kaffee gemacht, und du kannst mir erzählen, was dich zu einem alten Piraten wie mich verschlägt. Oder willst du anheuern?«
Er stieß die Tür in den nächsten Raum auf und bedeutete Vincente, ihm zu folgen. Dann ging er mit wiegenden Schritten voran. Der Papagei auf der Schulter hatte sich umgedreht und ließ den Besucher nicht aus den Augen.
Vincente trat über die Schwelle und glaubte sich in die Kulisse eines alten Hollywood-Streifens versetzt. Der Raum war größer als vermutet und nahm wohl die gesamte Fläche des Hauses ein. Er war vollgestopft mit nautischen Geräten, Flaggen, Ansichten von alten Schiffen und Galionsfiguren. Zwei Kanonen standen auf ihren Lafetten, auf den Eingang gerichtet, wie eine Warnung. Daneben war ein pyramidenförmiger Stapel von Kugeln errichtet worden. Alte Steuerräder hingen an der Wand, neben Ölgemälden von Schlachten und den verschiedensten Arten von Messern, die fein säuberlich untereinander aufgereiht worden waren. Wohin er auch sah, entdeckte Vincente neue Dinge, von denen er viele nicht kannte. Da waren alte Pistolen und Schiffslaternen, aufgerollte Taue und seltsam
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