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Faszination Menschenfresser

Faszination Menschenfresser

Titel: Faszination Menschenfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Ludwig
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die Tatsache ins Feld geführt, dass vor allem die Köpfe der Toten bearbeitet wurden, an denen ja bekanntermaßen nur wenig zum Verzehr geeignetes Fleisch zu holen ist.
    Schlägt man im Lexikon unter dem Begriff Kannibalismus nach, findet man meist folgende Definition: »Als Kannibalismus wird das Verzehren von Artgenossen oder Teilen derselben bezeichnet. Insbesondere versteht man darunter den Verzehr von Menschenfleisch durch Menschen.« Aber was treibt einen Menschen dazu, seine Mitmenschen zu verspeisen, eine Verhaltensweise, die in fast allen Kulturen mit einem Tabu belegt ist? Die Vergangenheit lehrt, dass Kannibalismus viele Ursachen haben kann. Folgt man neueren medizinhistorischen Forschungen, dann gab es zum Beispiel in Europa bis weit ins 18. Jahrhundert hinein einen weitverbreiteten sogenannten medizinischen Kannibalismus. Damals wurde in vielen europäischen Ländern reichlich Menschenfleisch in rohem oder gekochtem Zustand oder getrocknet und zu Pulver zerstoßen »zu Heilzwecken« konsumiert. Vor allem das Fett (Armesünderschmalz) und das Fleisch (Schelmenfleisch) hingerichteter Straftäter galten damals als wirksames Heilmittel gegen Gicht, Arthrose oder Lähmungserscheinungen. Aber auch innere Organe wie Herz, Leber, Milz und Nieren wurden als Sitz besonderer Kräfte, von denen man sich medizinische und magische Wirkung versprach, gerne verspeist. Ein übrigens überaus einträgliches Geschäft für den Henker, der die Körperteile und das Blut hingerichteter Delinquenten an Ärzte und Apotheker verkaufte, die diese dann für medizinische Zwecke weiterverarbeiteten. Leichenteile und Blut waren damals Bedarfsartikel, die es in jeder Apotheke gab. Doch auch die Kranken selbst griffen beherzt zu, wenn es galt, vielversprechender Leichenteile habhaft zu werden. So berichtet die amerikanische Anthropologin Beth Conklin, dass sich früher in Dänemark Epileptiker, »eine Tasse in der Hand«, um das Schafott drängten, »bereit, das aus dem noch zitternden Körper quellende Blut herunterzustürzen«.
    Aus damaliger Sichtweise war es eigentlich logisch, dass aus menschlichen Körperteilen hergestellte Heilmittel als deutlich wirkungsvoller galten als solche, die nur aus den Bestandteilen von Tieren gewonnen worden waren – wurde doch der Mensch als das vollkommenste aller Lebewesen angesehen. Die Körperteile hingerichteter Menschen waren dabei aus zweierlei Gründen besonders begehrt: Zum einen glaubte man damals, man könne durch den Verzehr von Teilen eines Menschen, der nicht eines natürlichen Todes gestorben war, dessen restliche Kraft von seinem Körper in den eigenen überführen. Zum anderen war man damals auch fest davon überzeugt, dass die Inkorporierung von Teilen eines geläuterten Sünders geradezu zwangsläufig eine heilende Wirkung haben müsse.
    Die Verwendung von menschlichen Körperteilen zu Heilzwecken hat übrigens eine lange Tradition. So versuchte man bereits im alten Rom, mit frisch gezapftem Gladiatorenblut Epilepsie zu kurieren.
    Seit dem Mittelalter gab es in Europa dann den ebenso makabren wie unappetitlichen Brauch, pulverisierte altägyptische Mumien zu konsumieren. Der gute Erhaltungszustand der einbalsamierten Körper galt den zeitgenössischen Medizinern als wichtiger Beweis, dass in einer Mumie besondere Heilkräfte enthalten seien. So glaubte auch der legendäre Arzt und Wegbereiter der modernen Medizin, Paracelsus (1493–1541), Mumienpulver helfe gegen allerlei Krankheiten und verordnete bei Epilepsie, Herzattacken, Übelkeit, Vergiftungen und Tuberkulose staubfein gemahlene Mumien. Die Nachfrage nach Mumienpulver hielt sich bis ins 19. Jahrhundert und war teilweise so groß, dass die Grabräuber, die die mumifizierten Leichen aus ihren Ruhestätten raubten, trockneten und pulverisierten, kaum mit der Lieferung von Nachschub nachkamen.
    Auch an Arzneirezepturen zur richtigen Zubereitung menschlicher Körper mangelte es nicht: So beschrieb etwa der deutsche Pharmakologe Johann Schröder (1600–1664), der mit dem Artzney-Schatz das wohl wichtigste Arzneibuch des 17. Jahrhunderts verfasst hat, detailliert die Zubereitung des Muskelfleischseines rothaarigen, etwa 24 Jahre alten Mannes, der »gehängt, gerädert oder geköpft« werden und dann bei »heiterem Wetter einen Tag und eine Nacht in Sonne und Mond« gelegen haben sollte. Das Fleisch, so verrät das Rezept, solle zunächst in kleine Stücke oder Scheiben geschnitten und anschließend mit Myrrhe und ein wenig Aloe

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