Fehlschuss
Nussbaumschreibtisch in sich zusammen.
„Hören Sie, meine Frau …“ Mit einer müden Handbewegung fuhr er sich
über die Augen. „Können wir meine Frau da raushalten?“
„Soweit wir von ihr keine Bestätigung für Ihr Alibi brauchen!“,
versprach Susanne. „Wo waren Sie von Dienstag auf Mittwochnacht letzte Woche,
Herr Witte?“
Eine Stunde später fuhren sie weiter zu Martin Geseke. Witte war bis
einschließlich Donnerstag auf einer Messe in Basel gewesen. Wenn das stimmte,
schied er also für den Mord an Tönnessen aus. Seinen Worten und seinem
Terminkalender zufolge, den er sie bereitwillig einsehen ließ, hatte er den
Freitag, an dem Lautmann starb, mit Konferenzen verbracht. Abends war er im
Bonner Maritim-Hotel zu einem Geschäftsessen eingeladen gewesen.
All das würden sie überprüfen, natürlich. Aber Susanne hatte keinen
Zweifel, dass seine Aussage stimmte. Was jedoch alles oder nichts heißen
konnte. Das perfekte Alibi für die Zeit, die ein Komplize für die Taten nutzte
— oder aber völlige Unschuld.
Eine seiner Behauptungen entlastete ihn allerdings. Er beteuerte,
Lautmann am 19. Januar, als sie am Flughafen in das von ihm bezahlte Taxi
stieg, das letzte Mal gesehen zu haben. Auch das schien glaubwürdig. Jedenfalls
wies der Kalender danach kein „HW“ mehr aus. Und somit kam er als Vater des
Kindes, das Inge erwartet hatte, nicht in Frage — sie war erst im dritten Monat
gewesen. Eine unerwünschte Vaterschaft Wittes schied also als Tatmotiv aus —
sofern er die Wahrheit sagte.
Witte zeigte sich offen und hilfsbereit, nachdem er erkannt hatte,
dass jede andere Reaktion nur Schwierigkeiten nach sich ziehen würde.
Bereitwillig erzählte er, dass er vor fünf Jahren auf Empfehlung eines
Geschäftspartners zum ersten Mal die Dienste von Tönnessens Agentur in Anspruch
genommen hatte. Vor gut einem Jahr hatte sie ihm Inge empfohlen, die er danach mehrmals
zu Geschäftsreisen mitnahm. Da konnte er sich von ihr verwöhnen lassen, ohne
sich ständig Ausreden für seine Frau überlegen zu müssen.
Ebenso bereitwillig wie er Auskunft gab, stimmte er zu, die beiden
Polizisten durch das Firmengebäude und das dazu gehörende Gelände zu führen,
obwohl sie keinen Durchsuchungsbefehl hatten.
Nur die Frage, ob er einen schwarzen Hund besitze, verwirrte ihn
erheblich. „Einen Hund? Ich hab mein Lebtag noch keinen Hund besessen!“, sagte
er mit gerunzelter Stirn, als er sie durch das Haus führte.
Die Hermann Witte KG war im Wesentlichen eine riesige zweistöckige
Halle. Beinahe die gesamte Vorderseite ließ sich mit großen Toren öffnen,
direkt zu einer Rampe hin, wo LKWs be- und entladen wurden. Die untere Halle
war gespickt mit Hochregalen voller Lebensmittel und Gebrauchsgegenständen
aller Art. Von 25-kg-Säcken Reis bis zu Wunderkerzen und Streichhölzern konnte
man offenbar alles haben.
„Wunderkerzen laufen das ganze Jahr über fantastisch“, erklärte Witte
beinahe ergriffen. „Auf irgendwelchen Betriebsfeiern, Jubiläen und Geburtstagen
brauchen sie diesen Kitsch immer.“
Und dann setzte er zu einem Hohelied auf seine Firma an. Man habe sich
in den letzten Jahren mehr und mehr dem Import zugewandt und sich auf die
Belieferung asiatischer Lebensmittelgeschäfte spezialisiert, führte er mit
leuchtenden Augen aus. Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Kundenkreis
waren so genannte Großverbraucher. Kantinen, Krankenhausküchen,
Catering-Unternehmen der Filmbranche, und so weiter. Als Direktimporteur
lieferte die Hermann Witte KG ohne zwischengeschaltete Großhändler, also
preiswert und schnell. Ein Novum in der Branche, wie er betonte. Die meisten
seiner Konkurrenten hatten durch Preiskämpfe und logistische Schwierigkeiten so
viele Federn gelassen, dass sie kaum noch existieren konnten.
Als er ihnen die Büros im Obergeschoss zeigte und von der
Auftragsannahme bis zur Lohnbuchhaltung für jede Abteilung ein paar warme Worte
fand, verdrehte Susanne nur noch die Augen. Und es machte sich Enttäuschung in
ihr breit. Aber was hatte sie auch erwartet? Die Folterkammer mit dem Blut von
Inge Lautmann an den Wänden? Du lieber Himmel!
Gedanklich strich sie ihn aus der Liste. Witte mochte einer der
letzten Dinosaurier in seinem Geschäft sein, der um sein Überleben kämpfte. Er
war korrekt bis in die Haarspitzen, und die einzige Unsicherheit in seinem
Leben war Inge Lautmann gewesen, die ihm ab und an das Leben ein wenig
versüßte, ihn aus dem Alltagstrott befreite und
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