Feind
trotzen konnten. Die Milirier
verzweifelten wie alle anderen auch. Befriedigt sah Lióla, dass sich bereits
jetzt die erste Essenz aus der Gruppe der Adepten löste und schwerelos zu den
Kristallen trieb, die in den Wandnischen aufgestellt waren. Es gab sie überall
in der Kathedrale. Nichts von der Hingabe, die hier gefühlt wurde, sollte
verschwendet werden. Alles wurde den Schattenherren dargebracht.
»Wie heißt du?«, fragte Lióla.
»Pnemaja.«
»Was macht eine Priesterin der Mondmutter in Milir, Pnemaja?«
Sie strich eine Strähne verfilzten Haares aus dem Gesicht. »Die
Menschen müssen zusammenstehen.«
»Oh!«, tat Lióla überrascht. »Habt ihr das endlich eingesehen? Dass
die Menschen ein einziges Schicksal teilen?« Ihr Ton wurde schärfer. »Vor den
Herren der Schatten im Staub zu liegen!«
Pnemajas Kiefer mahlten.
Sie ist stolz. Gut. Ihr will ich mich heute
besonders widmen.
»Ihr könnt doch noch nicht einmal vor den Fayé bestehen, und das,
obwohl sich alle Gelehrten einig sind, dass ihre Zeit vorüber ist.«
Pnemaja schwieg.
»Ruft eure Götter! Ihr alle! Den Stierherrn oder die Mondmutter, mir
soll es gleich sein! Schreit nach ihnen! Wir wollen sehen, ob sie euch hören.
Wird das Licht der Monde die Kathedrale zum Schmelzen bringen, oder werden
Terrons Hörner ihre Mauern einreißen? Nun los! Fleht sie an, eure schwachen
Götter!«
Sie schritt vor den Gefangenen auf und ab.
»Ihr wollt nicht? Warum? Weil ihr wisst, dass sie ohnmächtig sind?
Dass sie vor den Unsterblichen der Nacht um Gnade winseln?«
»Das tun sie nicht!«, brauste ein Adept auf. Er war jünger als die
anderen, konnte nicht viel mehr Jahre gesehen haben als Lióla selbst. Dem Ritus
seines Glaubens folgend, hatte er kräftige Muskeln herausgebildet.
»Nein? Ist es denn stark, das Rindvieh, das du anbetest?«
»Terron ist ein machtvoller Gott! Er segnet Feld und Fluss, treibt
den Winter zurück und gibt uns Nahrung.«
»In dieser Welt«, versetzte Lióla, »misst man Macht nicht daran, ob
es einem gegeben ist, zu erschaffen und zu heilen. Macht besitzt jener, der
niederzureißen und zu zerstören vermag.« Sie nickte einer Wache zu.
Rüde bahnte sich der Krieger den Weg zu dem Sprecher. Ohne Zögern
griff er in das volle Haar des Jünglings, riss seinen Kopf zurück und stieß den
Dolch durch die Kehle in die Brust.
Das Blut spritzte auf die in der Nähe Knienden. Verzweifelte Schreie
erhoben sich, pressten nun eine größere Menge Essenz aus den Menschen. Lióla
hatte einen Blick dafür entwickelt, sie konnte das Flimmern erkennen, das von
den Kristallen angezogen wurde. Ein Weltlicher mochte Schwierigkeiten damit
haben. Es war nicht vergleichbar mit den Mengen, die ein Schattenherr rufen
konnte, wenn er das Leben aus einem Opfer lockte. Mehrfach war Lióla Zeugin
geworden, als Baron Gadior solcherlei getan hatte.
Gemessen an den Mitteln, die ihr gegeben waren, war dies ein guter
Beginn. »Wollt ihr nun endlich beten? Oder soll noch jemand sterben, um euch in
die rechte Stimmung zu bringen?«
Terron liebte Anrufungen, die nur zu einem Teil aus Wörtern der
menschlichen Sprache bestanden. Sie wurden von melodischen, tiefen Tonfolgen
getragen, in die sich Lobpreisungen mischten. Zunächst gaben die gewohnten
Riten den Adepten Halt, aber später, wenn ihnen klar würde, dass niemand da
war, der ihre Gebete erhörte, dass sie voll und ganz der Macht der Schatten
ausgeliefert waren, dass die Diener Ondriens sie nach Belieben verkrüppeln und
töten konnten, ohne dafür Rechenschaft ablegen zu müssen, dann würde die
Verzweiflung in ihre Herzen kriechen und die Essenz würde in die Kristalle
fließen. So war es immer, so würde es auch heute sein. Eine Woche mochten sie
durchhalten, vielleicht zwei, bis die Verzweiflung der Taubheit wiche. Ab dann
wären sie wertlos und man entledigte sich ihrer, um die Mittel zu sparen, die
man dafür aufwenden musste, ihre kümmerliche Existenz zu erhalten.
Die Ilyjierin kniete mit geschlossenen Augen und murmelte leise ihre
Verse. Zu den Gebeten der Gruppe trug sie nichts bei. Ihre Religion war eine
andere, sie konnte die Gesänge nicht unterstützen.
»Steh auf und komm mit«, forderte Lióla. »Ich werde dir die
Dunkelheit zeigen.«
Die Priesterin gehorchte.
Sie lernt schnell. Sehr gut.
Die Kathedrale von Karat-Dor war ein Musterstück ondrischer
Architektur. Überall schufen Erker und Nischen Schatten. Das gedämpfte Licht
der Kohlebecken ließ den Unerfahrenen Bewegungen
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