Feind
bitter. »Im besten Glauben, darf
man annehmen. Aber mir fehlen die zwanzig, die sie befreiten. Heute ist die
Nacht, in der das Schiff ablegt.«
»Ich«, schluchzte Deria, »ich verstehe das nicht! Was geschieht mit
Rina?«
Betretenes Schweigen antwortete ihr, bis Estrogs Stimme so laut
donnerte, dass nicht wenige zusammenzuckten. »Es sind unsere Gefühle, von denen
sich die Verderbten nähren. Kinder fühlen stärker als Alte. Vor allem solche
Kinder, die sich nicht von klein auf unter den Schatten duckten. Deswegen
fordern sie die Schutzlosesten von uns als Tribut.«
Derias Augen verrieten, dass sie noch immer nicht verstand.
»Deine Tochter ist auf dem Weg nach Ondrien«, erklärte Helion leise.
»Nach Ondrien?«
Trubers Faust krachte auf den Tisch. »Ja! Nach Ondrien! Und es ist
an mir, die Schuld dafür zu tragen! Das ist die Pflicht des Fürsten. Aber ich
brauche Frieden mit den Schattenherren. Wir alle brauchen ihn. Wir können nicht
bestehen gegen die Fayé, wenn wir uns zugleich gegen die Ondrier verteidigen
müssen.«
»Die Front schneidet durch meine Heimat, nicht durch Eure«, sagte
Graf Jidon. »Die Heere stehen sich in Milir gegenüber.«
»Ja. Noch.« Truber lachte zynisch. »Aber die Schatten rücken vor.
Vielleicht siegt Ihr, ich wünsche es Euch. Aber ich kann die Zukunft meiner
Baronie nicht für diese Hoffnung verpfänden.«
»Wenn alle denken würden wie Ihr, hätten sich die Schatten bereits
über die ganze Welt gesenkt.«
Truber schwieg so lange, dass Estrog die Geduld verlor. Seine
Pranken packten den Tisch des Barons, rissen ihn herum und schleuderten ihn in
den Raum. Der brüllende Barbar hätte sich wohl auch auf den Adligen gestürzt,
wenn Helion sich nicht mit beiden Händen gegen seine Brust gestemmt hätte.
Estrog zögerte, den Freund beiseitezuschieben. Dieses Innehalten reichte den
Wachen aus, sich mit ihren Spießen vor ihren Herrn zu stellen.
Truber wischte ein Bratenstück fort, das auf seinem Wams gelandet
war. »Mir scheint, die Feier ist beendet.«
»Aber meine Tochter!«, rief Deria.
»Vielleicht ist es noch nicht zu spät für sie«, sagte Helion. »Wenn
wir sofort aufbrechen, könnte es uns gelingen, dieses Schiff noch abzufangen.
Auf welchem Fluss fährt es?«
»Das geht Euch nichts an«, versetzte Truber kalt. »Selbst mich geht
es nichts mehr an.«
»So viele Flüsse kann es hier nicht geben!«, rief Estrog. »Wir
werden es schon finden.«
Mit beachtenswertem Mut starrte Truber in die Augen des wütenden
Barbaren. »Nein, das werdet Ihr nicht.« Ruhig wandte er den Blick zu Graf
Jidon. »Es wäre ein kriegerischer Akt nicht nur gegen mich, sondern gegen das
ganze Königreich Eskad.«
»Eure Tat«, gab Helion zu bedenken, »zeugt auch nicht gerade von
Freundschaft. Schließlich habt Ihr den Feind gestärkt.«
»Bedauerlich, dass Ihr es so seht. Doch erwägt, nie habe ich die
Flüchtlinge aus Milir zurückgewiesen. Fünftausend von ihnen haben wir in
unseren Städten aufgenommen.«
»Mit allem Geschmeide, das sie mit sich führten«, erwiderte Graf
Jidon bitter.
»Wohl wahr, aber auch die Armen werden bei uns gespeist. Vielleicht
hätte ich ihre Kinder nehmen sollen, um den Preis zu zahlen.« Er machte eine
Pause, um die Worte nachhallen zu lassen. »Aber dazu war keine Zeit mehr, und
so sind es Frauen wie Deria, die Eure Landsleute auslösen. Also zürnt mir, wenn
Ihr es wünscht, aber macht Euch nicht Eskad zum Feind. Wir sind neutral von der
heutigen Nacht an. Ich wünsche Euch den Sieg, aber wir haben unseren eigenen
Krieg zu führen.«
Helion war entsetzt. »Wie könnt Ihr glauben, Eurem Volk Gutes zu
tun, indem Ihr dabeisteht, wenn die Welt in die Schatten fällt?«
»Besser die Welt als meine Baronie«, versetzte Truber. »Wir haben
keine Silberminen. Die Schattenherren haben keinen Grund, nach unserem Land zu
verlangen. Und sie halten ihre Verträge, das weiß jeder.«
»Ja. Aber habt Ihr auch genau geprüft, was Ihr verhandelt habt?«,
fragte Graf Jidon. »Kein Osadro überlebt es, einen Handel zu schließen, der
Ondrien über die Regentschaft des amtierenden Schattenkönigs hinaus bindet.
Elien Vitan sitzt seit beinahe eineinhalb Jahrhunderten auf dem Thron von
Orgait. Irgendwann wird auch er müde sein, und dann ist Euer Pakt nichtig.«
Kurz sah man die Überraschung auf Trubers Gesicht, bevor sich die
Maske des erfahrenen Diplomaten erneut darüber legte. »Die Probleme der Zukunft
werden meine Nachkommen lösen müssen.«
Die ersten
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