Ferne Ufer
türkischen Teppich, der auf dem Parkett lag, gedämpft.
Vor mir hörte ich ein Murmeln männlicher Stimmen, die ich nicht unterscheiden konnte. Als ich um eine Ecke in einen kürzeren Flur einbog, sah ich eine Tür, aus der Licht drang - das mußte das Büro des Gouverneurs sein. Von drinnen hörte ich Jamies Stimme.
»O Gott, John!« sagte er.
Ich blieb abrupt stehen, und zwar wegen des Tons in seiner Stimme - sie klang so bewegt, wie ich es selten bei ihm gehört hatte.
Ich näherte mich leise. Durch die halboffene Tür sah ich Jamie, der Lord John mit gesenktem Kopf leidenschaftlich umarmte.
Ich stand wie angewurzelt, vollkommen unfähig, mich zu bewegen oder etwas zu sagen. Dann trennten sich die beiden wieder. Jamie hatte mir den Rücken zugewandt, doch Lord John blickte in Richtung Flur; er hätte mich leicht sehen können, wenn er nicht Jamie angestarrt hätte. In seinem Gesicht zeichnete sich ein so unverkennbares Verlangen, daß mir das Blut in die Wangen stieg.
Ich ließ den Fächer fallen. Erstaunt drehte sich der Gouverneur um. Hastig rannte ich durch den Flur zurück zum Salon.
Ich stieß die Tür auf und kam hinter einem Palmkübel zum Stehen. Mein Herz raste. Obwohl in den schmiedeeisernen Kerzenleuchtern dicke Bienenwachskerzen flackerten und an den Wänden helle Fackeln brannten, waren die Ecken des Raumes dunkel. Ich stand im Schatten und zitterte.
Meine Hände waren kalt, und mir war übel. Was um Himmels willen ging da vor sich?
Der Schock des Gouverneurs, als er erfuhr, ich sei Jamies Frau, ließ sich nun zumindest teilweise erklären: Jener eine unbedachte
Blick quälenden Verlangens hatte mir unmißverständlich klargemacht, was mit ihm los war. Eine andere Frage war, wie es um Jamie stand.
Er war der Kommandant des Gefängnisses von Ardsmuir , hatte er wie beiläufig gesagt. Und, weniger beiläufig, bei anderer Gelegenheit: Weißt du, was Männer im Gefängnis machen?
Ich wußte es, hätte aber auf Briannas Kopf geschworen, daß Jamie so etwas nicht tat, es nie getan hatte, es nicht konnte, nie, unter keinen Umständen. Zumindest bis zu diesem Abend hätte ich es geschworen. Ich schloß die Augen, atmete schwer und versuchte, nicht an das zu denken, was ich soeben gesehen hatte.
Natürlich gelang mir das nicht. Und doch, je mehr ich daran dachte, um so unwahrscheinlicher erschien es mir. Die Erinnerung an Jack Randall war vielleicht wie die körperlichen Narben, die er hinterlassen hatte, verblaßt, aber ich konnte nicht glauben, daß sie ganz verschwunden war und daß Jamie es ertrug, geschweige denn genoß, wenn ein anderer Mann ihm den Hof machte.
Aber wenn er Grey so gut kannte, daß die Umarmung, die ich eben beobachtet hatte, nur als Zeichen der Freundschaft gelten konnte, warum hatte er mir dann nicht schon früher von ihm erzählt? Warum hatte er alles unternommen, um ihn zu sehen, sobald er erfahren hatte, daß Grey in Jamaika war? Mir wurde wieder übel. Ich mußte mich unbedingt hinsetzen.
Während ich mich zitternd an die dunkle Wand lehnte, öffnete sich die Tür zum Trakt des Gouverneurs, und Lord John trat heraus, um sich wieder unter seine Gäste zu mischen. Sein Gesicht war gerötet, und seine Augen glänzten. In diesem Moment hätte ich ihn ohne weiteres umbringen können, wenn ich nur eine wirkungsvollere Waffe als meine Haarnadeln zur Hand gehabt hätte.
Ein paar Minuten später öffnete sich die Tür erneut, und kaum zwei Meter von mir entfernt tauchte Jamie auf. Er hatte wieder sein kühles, reserviertes Gesicht aufgesetzt, aber ich kannte ihn gut genug, um Anzeichen einer starken Gefühlsregung zu erkennen. Doch ich konnte sie nicht deuten. Aufregung? Besorgnis? Furcht und Freude gleichzeitig? Etwas anderes? Ich hatte ihn noch nie so erlebt.
Er war weder auf Unterhaltung noch auf eine Erfrischung aus, sondern wanderte im Raum herum. Offenbar suchte er jemanden. Mich.
Ich schluckte. Unmöglich, ihm jetzt gegenüberzutreten - nicht vor all den Leuten. Ich blieb, wo ich war, und beobachtete ihn, bis er schließlich hinaus auf die Terrasse ging. Dann verließ ich meinen Platz und ging so schnell wie möglich zu den Toiletten. Dort konnte ich mich wenigstens eine Weile hinsetzen.
Ich stieß die schwere Tür auf und trat ein. Als ich den warmen, tröstlichen Duft von Damenparfüm und Puder wahrnahm, ließ die Spannung sofort nach. Doch dann bemerkte ich einen anderen Geruch, einen, der mir von meiner Arbeit als Ärztin nur allzu vertraut war, den ich hier
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