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Feuer brennt nicht

Feuer brennt nicht

Titel: Feuer brennt nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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der blaue Blick klar; sie hat Träume, besonders von Reisen und längeren Aufenthalten im Ausland, glaubt nach wie vor an endlose Möglichkeiten und liebt ihren versponnenen Alltag, wie sie das nennt. Und mit der Überzeugung, dass man sich in einer Familie in einem festgelegten und vielfach fremdbestimmten oder gar zwanghaften Kreis bewegen würde, dass man aber in einem Leben, wie sie es führen, die Chance habe, darüber hinauszugelangen, redet sie sich keinen Mangel schön; sie spricht – sein Empfinden hierfür ist untrüglich – frei aus dem Herzen. Aber wo oder was wäre dieses »darüber hinaus«?

    Richard Sander schwitzt. Die blauen Augen, die enger beieinanderstehen als vordem, sind etwas heller geworden – oder die Schatten in den Lidwinkeln dunkler. Die schön geschwungenen Falten auf der hohen Stirnsehen markanter aus, die Halshaut ist schlaffer, doch sonst hat sich kaum etwas verändert an ihm. Der über Siebzigjährige würde ohne weiteres als Endfünfziger durchgehen; sogar in der Stimme gibt es noch jenen Schimmer, der etwas Jungenhaftes unter dem Firnis einer leicht teigigen Männlichkeit suggeriert, wenn nicht die Spur einer weiblichen Note. Auch der Mund wirkt nach wie vor sinnlich; die fast farblosen Lippen sind erstaunlich voll, so dass die skeptisch oder gar verbittert herabhängenden Winkel zunächst kaum auffallen. Der Blick ist ausdruckslos, fast starr, und aus den Nasenlöchern ragen graue Härchen.
    Er hat einen Arm um die Schultern seiner Freundin oder Frau gelegt, einer Hageren in weiten Kleidern, die ein zusammengerolltes Notenheft in der Hand hält. Sie mag ungefähr so alt sein, wie er aussieht, und auch als Wolf die beiden hereinbittet, lächelt Richard nicht; die Sonne funkelt in den Fenstern hinter den Bäumen, und er blickt ihm ruhig ins Gesicht, während der Schweiß über seine Schläfen und die Halsseiten rinnt. Offenbar selbst nicht sicher, wie sich die Begrüßung gestalten soll nach so langer Zeit, mustert er ihn unverhohlen von Kopf bis Fuß, wobei ein Hauch von Belustigung um seine Züge spielt, was vermutlich Wolfs gebügeltes Hemd meint und die blanken Schuhe. Angesichts der buschigen, an den Spitzen feuchten Brauen kommt es dem einen Moment lang vor, als hätte Richards Blick etwas Gehörntes.
    Am auffälligsten haben sich seine zwar nicht mehr gelockten, aber immer noch welligen Haare verändert; ihr ehemals helles, fast weizengelbes Blond hat nuneinen fettig-stumpfen Schieferton, der womöglich auch daher rührt, dass sie wieder einmal gewaschen werden müssten; man kann die Schuppen zwischen den Strähnen sehen. Das Kinn ist stoppelig, unter seinen Fingernägeln gibt es Ränder, und überhaupt hat er mehr von einem Clochard als von einem recht wohlhabenden Schriftsteller; er ist mit der Bahn gekommen, doch wie Wolf von einer ihm bekannten, etwas klatschhaften Buchhändlerin gehört hat, besitzt er ein Auto und eine Eigentumswohnung in Berlin sowie das erwähnte, nun weitläufig ausgebaute Haus in Ligurien, und er hat sich gerade ein zusätzliches im Allgäu gemietet. Aber seine ausgetretenen Wanderschuhe, die zerknitterte, für die Hitze des Frühsommers viel zu dicke Flanellhose, das Sweatshirt aus flauschigem Polyester und ein kariertes Holzfällerhemd, von dem die Steppfäden herabhängen, lassen ihn aussehen, als wäre er gerade unter dem Brückenbogen hervorgekommen.
    Dazu passt der sackfarbene Leinenbeutel, in dem eine Flasche Wasser und ein paar Bücher stecken, und dennoch ist es nicht die schmuddelige und auch ein wenig säuerlich riechende Erscheinung, die Wolf bewegt, ihm die Hand am vorgereckten Arm entgegenzuhalten wie ein Distanzmaß; er will einfach vermeiden, von dem anderen in eine jener Umarmungen gezogen zu werden, deren Herzlichkeit schon damals eher fraglich war. Da der beeindruckend große Richard die meisten Menschen überragt, geböte es zwar das Feingefühl, nicht alle unter seinen Schultern zu begraben; doch so wie er jeden, der mit Kenntnissen in der Literatur prunkte, mit immer noch fundierterem Wissen an dieWand drückte und lauthals zusammenfaltete, machte er aus den meisten Umarmungen ein Rangordnungs-Ritual. Danach kam man sich stets ein wenig kleiner vor, als man war, und so schüttelt Wolf ihm nur die Hand, woraufhin es denn auch kurz gewittert in Richards Blick: wie in dem eines alten Katers, dem gerade eine Maus entkam.
    Er hat Angst vor Hunden, immer schon gehabt; die großen zotteligen, mit denen die Bauern auf den Hochebenen

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