Feuersee
schmerzten.
»Ich – ich habe das Todestor studiert,
bevor ich
mich hineinwagte. Die ersten beiden Male hast du die Passage gar nicht
wahrgenommen, oder?«
Haplo gab keine Antwort. Er wollte den Versuch
machen, die Brücke zu erreichen. Im Laderaum war Alfred
vorläufig gut
aufgehoben. Wohin sollte er auch fliehen?
Haplo erhob sich – und erhob sich immer weiter.
Er stand auf und auf und auf, bis er unweigerlich durch die
Bodenplanken des
Oberdecks stoßen mußte, und er schrumpfte, wurde
kleiner, kleiner, kleiner, bis
selbst eine Ameise es nicht bemerkt hätte, wenn sie
über ihn hinweggelaufen
wäre.
Das Todestor. Ein Ort, der existiert und doch
wieder nicht. Wirklich und doch Illusion. Die Zeit bewegt sich im
Vorwärtsschreiten rückwärts. Licht so grell,
daß undurchdringliche Dunkelheit
herrscht.
Haplo fragte sich, wie er ohne Stimme sprechen
sollte. Er schloß die Augen und schien sie weit zu
öffnen. Sein Kopf, sein
Körper spalteten sich, und die Teile schwebten in genau
entgegengesetzte
Richtungen davon. Sein Körper verdichtete sich immer mehr, bis
zur Implosion.
Er preßte die Hände gegen den berstenden
Schädel und fühlte sich herumgewirbelt
wie ein Blatt im Sturm, bis er das Gleichgewicht verlor und zu Boden
sank. Aus
weiter Ferne hörte er jemanden schreien, doch er konnte ihn
nicht hören, denn
er war taub. Er sah alles klar und deutlich, weil er vollkommen blind
war.
Haplos Verstand rang um die Vereinigung des
Unvereinbaren; sein Bewußtsein floh in sein tiefstes Selbst,
auf der Suche nach
der verlorengegangenen Wirklichkeit, auf der Suche nach einem festen
Punkt im
Universum, an den es sich klammern konnte.
Sein Selbst fand – Alfred.
Im selben Moment, als Alfreds Bewußtsein Haplo
fand.
Alfred stürzte – oder schwebte? –
durch ein
scheinbares Nichts, bis er unvermittelt zum Stillstand kam. Die
scheußlichen
Einflüsse des Todestores hatten aufgehört. Nichts
drehte sich um ihn, und er
wollte vor Erleichterung aufschreien, als er merkte, daß der
Körper, in dem er
sich befand, nicht sein eigener war. Er gehörte einem Kind,
einem Jungen von
etwa acht, neun Jahren. Dieser fremde Körper war bis auf einen
Lendenschurz
unbekleidet und übersät mit verschlungenen roten und
blauen Tätowierungen.
Zwei Erwachsene standen neben ihm und sprachen
miteinander. Alfred kannte sie, wußte, es waren seine Eltern,
obwohl er sie nie
zuvor gesehen hatte. Er wußte auch, daß er bis zur
völligen Erschöpfung um sein
Leben gelaufen war. Jetzt schmerzte sein Körper, seine Lungen
brannten, und er
war nicht fähig, noch einen einzigen Schritt zu tun. Er hatte
entsetzliche
Angst, und es kam ihm vor, als hätte er den
größten Teil seines kurzen Lebens
Angst gehabt, als wäre Angst seine erste bewußte
Empfindung gewesen.
»Es hat keinen Sinn«, sagte der Mann, sein
Vater, der nach Atem rang. »Sie holen auf.«
»Wir sollten jetzt stehenbleiben und
kämpfen«,
drängte die Frau, seine Mutter, »solange wir noch
bei Kräften sind.«
Alfred wußte trotz seiner Jugend, daß sie
keine
Chance hatten. Was immer sie verfolgte, war schneller und
stärker. Er hörte
furchteinflößende Geräusche näher
kommen, von schweren, massigen Leibern, die
durch das Unterholz brachen. Ein Wimmern stieg ihm in die Kehle, doch
er würgte
es hinunter; wenn er sich von der Angst überwältigen
ließ, wurde alles noch
schlimmer. Statt dessen griff er an seinen Lendenschurz und zog einen
scharfgeschliffenen, blutverkrusteten Dolch hervor. Offenbar, dachte
Alfred, habe ich schon mehrfach getötet.
»Und der Junge?« fragte seine Mutter. Die
Verfolger kamen rasch näher.
Die Finger des Mannes krampften sich um den
Speer in seiner Hand. Er schien nachzudenken, dann tauschten die beiden
Erwachsenen einen Blick, dessen Bedeutung Alfred sehr genau
erfaßte. »Nein!«
wollte er schreien und auf seine Eltern zuspringen, doch ein Hieb gegen
die
Schläfe warf ihn bewußtlos zu Boden.
Alfred verließ seinen neuen Körper und
schaute
zu, wie der Mann und die Frau den bewußtlosen Jungen ins
Unterholz zerrten und
mit Buschwerk bedeckten. Dann setzten sie ihre Flucht fort, um den
Feind so
weit von ihrem Kind wegzulocken wie nur möglich, bevor sie
gezwungen waren,
sich zu stellen und zu kämpfen. Sie handelten nicht aus Liebe
zu ihm, sondern instinktiv,
wie eine Vogelmutter einen gebrochenen Flügel
vortäuscht, um den Fuchs von
ihrem
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