Flamingo (Detective Dave Robicheaux) (German Edition)
Kristallschale mit Wasser, in der Kamelienblüten schwammen. Zum Nachtisch hatte man die Wahl zwischen Mousse au Chocolat und Vanilleeis.
Später machte ich in der Abenddämmerung einen kleinen Spaziergang hinter dem Haus, während Tony mit seinem Sohn fernsah. Das Gras unter meinen Füßen war dicht und fest, die Blumenbeete waren frei von jeglichem Unkraut, und die Bananenstauden und Palmen wurden täglich von toten Blättern gereinigt, so daß alles in Tonys Garten grün und blühend aussah, unabhängig von der Jahreszeit.
Aber wie war in diesem Jahr das Leben für die meisten anderen Menschen in New Orleans? Das fragte ich mich. Und welche Veränderungen hatte die Stadt selbst in den letzten fünf Jahren durchgemacht?
Selbst ein Tourist konnte diese Fragen beantworten. Die Ölindustrie steckte schwer in der Krise, und die wirtschaftliche Situation war so schlimm wie seit der Weltwirtschaftskrise nicht mehr. Pappkartons und Säcke mit offenem Müll lagen tagelang auf den Gehsteigen, von Fliegen umschwirrt; Penner und Obdachlose beiderlei Geschlechts durchwühlten die Mülltonnen auf der Canal Street nach Eßbarem. Die Mordrate war mittlerweile so hoch, daß im Durchschnitt jeden Tag ein Mord begangen wurde. Wenn einem das Auto aufgebrochen oder auch nur alle Fenster mit Ziegelsteinen eingeschlagen wurden, war es unwahrscheinlich, daß in weniger als anderthalb Stunden ein Polizist am Tatort aufkreuzte. Der St. Louis Cemetary hinter der Basin Street, der immer eine der interessantesten touristischen Attraktionen der Stadt gewesen war, war jetzt so gefährlich, daß man ihn nur noch bei einer Gruppenführung unter der Leitung eines Polizisten außer Dienst betreten konnte. Die Wohnblocks, in denen ausschließlich Sozialhilfeempfänger lebten, die projects – St. Bernard, St. Thomas, Iberville direkt an der Canal Street, und, am allerschlimmsten, Desire – waren über die ganze Stadt verteilt, und in ihnen gab es alles Schlechte, das die menschliche Gesellschaft hervorbringen konnte: Ratten, Küchenschaben, Inzest, Vergewaltigung, Kindesmißhandlung, Drogen en masse und sadistische Straßenbanden. Schwarze Teenager, bis an die Zähne bewaffnet mit Neunmillimeterpistolen und halbautomatischen Sturmgewehren, erzielten gewaltige Profite mit dem Handel von Crack, und sie töteten ausnahmslos jeden, der sich ihnen in den Weg stellte. Ein schwarzer Kommunalpolitiker im Desire-Project kündigte öffentlich an, daß er die Drogendealer aus dem Block vertreiben wolle. Zwei Tage später wurde er von zwei Fünfzehnjährigen niedergeschossen, und während er blutend auf dem Gehsteig lag, brachen sie ihm noch mit einem Baseballschläger die Rippen.
Ich saß auf einer Steinbank neben Tonys Tennisplatz und sah zu, wie das Licht der Dämmerung in endloser Stille immer schwächer wurde. Der Himmel im Westen hatte den matten Grauton eines blankgenagten Knochens. Einer der Torwächter schaltete die Flutlichtscheinwerfer an, die in den Eichenbäumen entlang der Mauer um das Grundstück angebracht waren. Die Fischteiche, die Vogelbäder, die Alabasterstatuen auf dem Rasen, all das schien von einer feuchten, knisternden, leuchtenden Aura umgeben, gerade so, als besäße das Kommen der Nacht in Tonys Welt keine Gültigkeit.
Durch die Glasverkleidung der Sonnenterrasse hindurch konnte ich ihn sehen. Er saß mit Paul vor dem Fernseher, ein Lachen im Gesicht über einen Witz, den ein Komiker gerade gerissen hatte. Ich fragte mich, ob Tony jemals einen Gedanken an das Leben in den Betonghettos von New Orleans oder die Heerscharen jugendlicher Crackabhängiger verschwendete, die ihr Hirn zum Frühstück kochten. Ich kam zu dem Schluß, daß er es vermutlich nicht tat.
Abends rief ich zweimal bei Bootsie an. Sie war beide Male nicht zu Hause, aber am nächsten Morgen war ich früh auf und bekam sie schließlich um sechs Uhr an den Apparat. Ihre Stimme war warm und schlaftrunken.
»Ich habe schon die ganze Zeit versucht, dich zu erreichen«, sagte ich.
»Ich war nicht in der Stadt.«
»Wo warst du dann?«
»Drüben in Houston. Im Baylor.«
»Im Krankenhaus?«
»Ja.«
»Weswegen warst du im Baylor?«
»Ach, es ist nichts.«
»Boots?«
»Ja?«
»Was verschweigst du mir?«
»Mach dir keine Sorgen, Schatz. Wann sehen wir uns?«
»Kann ich jetzt vorbeikommen?« sagte ich.
»Hm, was hattest du denn vor?«
Mir wurde mit einem Schlag klar, daß ich auf diese Frage keine ehrliche Antwort hatte.
»Weil ich nämlich arbeiten gehen
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