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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Hallenaufseher Ausschau und huschte dann in den Nachbargang. Dort lagen die Zeitungen in einem chaotischen Haufen – schlampig gestapelt –, und er arbeitete sich durch sie hindurch, in Richtung des Gebrabbels, dabei kondensierte sein keuchender Atem in der Luft vor ihm. In der Mauer war eine kleine Nische, und darin sah er einen weißhaarigen Hinterkopf, den alten runzligen Hals, und tatsächlich, er war es: Bird the Third.
    Er war verblüfft. Er hätte geglaubt, der Typ wäre längst weg, hätte seine Leute oder seinen Pfleger oder was auch immer wiedergefunden. Trotzdem, da war er, und einen Moment lang durchströmte Roger neue Hoffnung. Vielleicht trug er ja noch etwas bei sich, etwas, das er übersehen hatte, ein Schmuckstück, die Brille – ach was, dann eben seine Kleider. Doch dann sah er, daß Bird the Third schon gefleddert worden war. Jemand hatte mit ihm Klamotten getauscht: er trug jetzt einen kotzgrünen Hausmeister-Overall, und es fehlte ihm ein Schuh – oder er hatte nur einen gefunden, einen kaputten, schmutzigen alten Nike-Turnschuh mit einem riesigen Loch vorne an den Zehen. Er bot ein Bild des Jammers. Völlig verkommen. Und er war nichts mehr wert.
    Lange Zeit stand Roger nur vor ihm und beobachtete ihn. Der Alte bibberte, er hatte die Arme wie Taue um den Körper geschlungen, und der nackte Fuß war verfärbt und sah nicht gut aus. Er hatte diesen starren Blick, tausend Kilometer weit weg, genau wie ihn ältere Penner bisweilen hatten, Vietnam-Veteranen und so. Rogers Verstand arbeitete auf Hochtouren, und einen Augenblick lang malte er sich aus, wie er den Burschen zum Polizeirevier brachte und vielleicht eine Belohnung von seiner Familie kriegte. Die mußten ihn doch einfach suchen. Keiner kam aus dieser Welt, mit dem Haarschnitt und einem Koffer und einer Movado-Uhr, ohne daß jemand nach ihm suchte, besonders wenn er ohnehin schon einen weichen Keks hatte.
    Etwa acht Sekunden lang war es eine gute Idee, dann wurde sie schon rapide schlechter, und nach weiteren zehn Sekunden schien sie ihm total bescheuert. Es würde keine Belohnung geben – vielleicht für Otto Normalverbraucher und Herrn und Frau Bravbürger, für die vielleicht, aber nicht für jemanden wie Roger. So lief das eben: es gab zwei Welten nebeneinander – die eine, in der dieser Vogel Bird the Third und seinesgleichen lebten, und diese hier, die wirkliche Welt, in der man auf dem kalten Boden pennte und die Krümel aß, die sie einem hinschmissen. Scheiß auf all das. Scheiß drauf. Genau wie mit dieser Kreditkarte. Er hatte sie in etwa zwanzig Schnapsläden ausprobiert – in Läden, in denen sie ihn kannten, und in anderen, in denen sie ihn nicht kannten –, und niemand hatte ihn für Bird the Third gehalten, gleichgültig, wie viele Ausweise er vorzeigte und wie sehr er sich bemühte. Keine Chance, so wie er aussah. Beim letzten Laden war er sogar bereit gewesen, das Ding gegen eine Flasche einzutauschen – Hier, willste die Karte haben? Visa Gold, kannste behalten –, aber der Typ hinter dem Tresen war eklig geworden, echt eklig, und hatte den ganzen Ramsch konfisziert, Plastikgeld, Ausweise, alles. So war das.
    Er wollte eigentlich etwas sagen, auf Wiedersehen oder nett war’s oder so was, aber dann entschied er sich dagegen. Irgendwo in dem tiefen Tunnel dessen, was einmal seine Wirklichkeit gewesen war, verspürte er sogar einen Stich Mitleid und, schlimmer noch, Schuldgefühl. Doch er tröstete sich mit dem Gedanken, wenn er nicht am Bahnhof gewesen wäre, hätte ein anderer sich Bird the Third gekrallt, und wie man die Sache auch drehte und wendete, der wäre so oder so ausgenommen worden. Letzten Endes zuckte er nur die Achseln. Dann machte er sich zwischen den Zeitungen davon und nahm sich vor, mal wieder zum Bahnhof zu gehen und es dort zu versuchen.
    Oh, es war kalt. Kalt bis auf die Knochen. Und trocken. Die Ironie der Sache war ihm nur allzu bewußt – ein Schelf aus Wasser, hartgefroren und zusammengepreßt im Lauf unendlicher Äonen, und kein Tropfen zu trinken. Eingesperrt, unzugänglich, papiertrocken. Er veränderte seine Haltung und zuckte vor Schmerz zusammen. Es war sein Fuß. Eine Zeitlang hatte er jede Empfindung darin verloren, jetzt aber kehrte sie mit aller Macht zurück, tausend glühende Nadeln, die sich bis in den Oberschenkel bohrten. So war das eben mit Erfrierungen. Er würde seine Zehen einbüßen, das war ihm klar, aber sie hatten alle Zehen und Finger verloren – die großen

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