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Fliehganzleis

Fliehganzleis

Titel: Fliehganzleis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederike Schmöe
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Kurz dachte ich an Larissa. Schließlich fragte ich in die Stille hinein: »Sie sagten, Sie waren katholisch. Haben Sie Ihren Glauben aufgegeben?«
    »Mein Mann beging 1978 Selbstmord. Katjas Tod hat ihn zerrüttet. Diese letzten zehn Jahre seines Lebens machte er mir und sich selbst das Dasein zur Hölle. Er war hochgradig depressiv. Ich selbst bin noch Kirchenmitglied. Ohne die Hilfe der Pfarrgemeinde hätte ich das alles nicht durchgestanden.«
    Simona zog einen Kamm hervor und striegelte ihr Haar, dass es wieder glatt an ihrem Kopf lag. Ich kritzelte ein paar Stichpunkte auf meinen Block. Simona betrachtete mich aufmerksam. Sie verlangte nach Fragen, sehnte sich heraus aus der Reserve, wollte ihren Beitrag zur Erklärung der Welt leisten. Um zu reden, ohne gefragt worden zu sein, waren Menschen wie Simona zu zurückhaltend.
    »Hätten Sie wohl noch eine Tasse Kaffee?«, bat Simona.
    Ich goss ihr nach und gab mich den inneren Bildern hin. Ein neunjähriges Mädchen im Ferienlager auf Usedom. Vergnügen, Indoktrination, Drill. Die Kinder ruderten unter den Augen der Erwachsenen auf dem Balmer See. Ein Ruder ging verlustig. Aus Unachtsamkeit, nicht aus Absicht. Eine dumme Geschichte in einer Gesellschaft und zu einer Zeit, in der nicht sofort Ersatz besorgt werden konnte. Man machte Katja für den Verlust verantwortlich und veranlasste sie, ihre ›Schuld‹ auszubügeln. Ein Mädchen aus christlichem Elternhaus war der geeignete Sündenbock. Die Gefahren auf dem Wasser bei schlechtem Wetter wurden zweitrangig. Der Erwachsene, der das Kind hätte schützen müssen, brachte es in Gefahr. Ich wagte mir Katjas Einsamkeit in ihren letzten Stunden nicht auszumalen.
    »Was kosten Sie?«, fragte Simona.
    »Wie bitte?«
    »Sie arbeiten doch sicher nicht umsonst? Es wäre mir recht, wenn Sie meine Geschichte aufschreiben würden.«
    Zurzeit konnte ich mich vor kurzentschlossenen Auftraggebern kaum retten.
    »Erzählen Sie. Dann entscheiden wir, ob daraus ein Buch werden kann.«
    »Würden Sie Musik auflegen?« Simona zeigte auf die vielen Regale mit den peinlich genau sortierten CD s.
    Ich wählte eine CD von Zwetschgndatschi. Der bayerischen Band, die den Klezmer so melancholisch und doch witzig spielen konnte, dass einem die Schluchzer im Halse stecken blieben.
    »Woher ist Ihnen der Hergang der Ereignisse damals auf Usedom so gut bekannt?«, nahm ich das Gespräch in die Hand.
    »Alex hat mich besucht und mir alles erzählt.«
    »Alex Finkenstedt?«
    »Genau der. Kennen Sie ihn?«
    »Nein. Ich suche ihn wie die Stecknadel im Heuhaufen.« Und die Polizei tut im Augenblick wahrscheinlich das Gleiche, hinderte ich mich gerade noch hinzuzufügen.
    »Wir haben wieder Kontakt aufgenommen. Erst später. Nach der Wende. Ich zog 1990 aus Leipzig weg und fand eine Anstellung in einer Literaturagentur in Köln. In der DDR war ich Lehrerin, aber ich hatte von dieser Arbeit genug. Als Germanistin wollte ich mich gern eingehender mit Literatur beschäftigen, und dann ergab sich diese Chance. Ich war damals 54 Jahre alt und froh über den Neuanfang. Mit Katjas Tod war ich versöhnt, mit dem meines Mannes auch, irgendwie. Nun, kurz nach … diesem Unfall tauchte Alex bei uns zu Hause auf, völlig verstört, ein traumatisierter 15-Jähriger.« Sie hielt inne. »Jetzt habe ich den Faden verloren.«
    »Nein, erzählen Sie weiter.«
    »Alex hat alles beobachtet. Hat gesehen, was mit Katja passiert war. Er sah, wie sein Vater sie wegschickte, wie sie auf den See hinausschwamm. Er alarmierte die Erwachsenen, aber sein Vater jagte ihn zum Teufel. Katja wurde Stunden später tot im Schilf gefunden. Das Verhalten seines Vaters hat Alex den Boden unter den Füßen weggezogen. In seinen Augen sah es so aus, als habe Reinhard Finkenstedt Katja umgebracht. De facto war das so.« Ein Schatten glitt über Simonas Gesicht.
    »Wie reagierten Sie, als Alex Sie mit seiner Version der Dinge konfrontierte?«
    »Alex’ Besuch bei uns war ja überfallartig. Wir saßen da in unserer Trauer, uns war noch gar nicht bewusst, was geschehen war. Wir glaubten irgendwo tief drinnen, Katja könne einfach zurückkommen. Deshalb kaufte ich Alex seine Geschichte erst einmal nicht ab. Aber Tage später änderte ich meine Meinung. Vielleicht brauchte ich nur einen kurzen Abstand, um alles zu überdenken. Man handelt in solchen Situationen nicht mehr. Die Zeit steht still. Man tastet sich durch den Tag.«
    »Haben Sie versucht, an Reinhard Finkenstedt

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