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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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unbedingt haben. Hinterm Steuer hat man das Gefühl, in einer Motoryacht zu sitzen.«
    »Okay.« In ihrem Gesicht spiegelt sich die verlockende Vorstellung, jung, verliebt und frei zu sein und mit offenem Verdeck durchs Land zu fahren. Einen Moment lang kann Hartmut nur staunen, dass es für ihn gar keine Vorstellung ist, sondern etwas, das er tatsächlich erlebt hat.
    »Meine erste große Reise«, sagt er. »Dinge, die man nicht vergisst.«
    »Wenn ich die Zeit zurückholen könnte, würde ich später heiraten und Mutter werden. Und vorher mehr von der Welt sehen.«
    »Der Fluss ging durch alles mitten hindurch, das ganze Land. Wir mussten ihm einfach nur folgen. Meistens haben die beiden Ufer zu verschiedenen Bundesstaaten gehört. Auf unserem Campus in Minneapolis hieß es East Bank und West Bank. Ich hab am Westufer gewohnt und auf dem Weg zum Unterricht jeden Tag den Mississippi überquert. Und jedes Mal gedacht, wow, der Mississippi. Aufgewachsen bin ich an der Lahn.«
    »Darf ich fragen, ob Sie noch Kontakt haben zu dieser Sandrine?« Frau Müller-Graf krempelt die Ärmel ihrer Bluse auf.
    Hartmut deutet auf seinen vollen Mund und lässt sich Zeit mit dem Kauen. Darf sie? Es fällt ihm schwer, den BH-Träger zu ignorieren, der unter ihrer Bluse zu erkennen ist.
    »Wir schreiben einander E-Mails«, sagt er. »Nicht mehr oft.« Zuletzt vor drei oder vier Jahren.
    »Ich frage, weil es selten ist, dass Männer sagen, sie hätten viel von einer Frau gelernt.« Sie machen da was richtig, scheint ihr Blick zu bedeuten.
    »Von meinem Doktorvater abgesehen, hab ich eigentlich nur von Frauen gelernt. Jedenfalls die wichtigen Dinge.«
    »Außerdem mag es naiv klingen, aber ich finde es schön, wenn Menschen nach der Trennung befreundet bleiben. Gute Beziehungen haben das verdient. Mein Ex-Mann und ich schaffen es leider, über jede Kleinigkeit zu streiten. Wann er Marko abholt, unseren Sohn. Ob zwanzig Minuten früher oder später, am Bahnhof oder zu Hause. Als wäre Streit das eigentliche Ziel und nicht ...« Mitten im Satz hält sie inne, schüttelt den Kopf und sagt: »Ach was, reden wir von was anderem. Erzählen Sie weiter!«
    Mühelos nimmt Hartmut den Faden wieder auf. So unbekümmert und redselig war er lange nicht. »Eigentlich wollte ich nach der Promotion nicht zurückkommen. Mein Traum war ein College im Mittleren Westen oder in Neuengland. Aber mein Doktorvater hatte andere Pläne, und er war nicht der Typ, gegen den man sich als Student hätte behaupten können. Vorsichtig ausgedrückt. Sonst wäre ich heute vielleicht Amerikaner.«
    »Auch ein komischer Gedanke, oder?«
    »Jetzt ja. Damals überhaupt nicht. Es war eher komisch, wieder in Deutschland zu sein. Diese winzigen Autos!«
    Sie lacht und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Hartmut zuckt mit den Schultern. Was soll’s, denkt er. Wie nah seine Füße den ihren gekommen sind, spürt er an einem plötzlichen Kitzel, der bis hinauf in die Wirbelsäule reicht. Die Zeit hat einen Sprung gemacht. Sehen sie einander nicht schon eine ganze Weile an, als achteten sie noch auf etwas anderes als den Gang der Unterhaltung? Hartmut bewegt seinen Schuh ein wenig zur Seite, verliert den letzten Zweifel und spürt seine Freude in eine Fülle inkompatibler Bestandteile zerfallen, Versprechen, Forderung und Drohung zugleich. Trotzdem streckt er den Fußein Stück weiter vor. Erneut fällt ihm auf, wie viele Kerzen in dem Raum brennen. Und dass weniger Leute da sind als bei seiner Ankunft.
    »Eine Weile hab ich mir sogar eingebildet, einen amerikanischen Zungenschlag zu haben, wenn ich Deutsch spreche«, sagt er mit dem breiten Akzent, den in Minnesota kein Mensch spricht. Die Berührung unter dem Tisch macht ein unbefangenes Gespräch schwierig. Zwischen ihnen stehen leere Teller, in der Flasche wartet der letzte Schluck. Frau Müller-Graf verteilt ihn auf beide Gläser und sagt: »Eigentlich könnten wir uns duzen.«
    »Das ist ...« Er sucht nach einer flotten Erwiderung und findet keine. »Hartmut.«
    »Katharina.«
    »Noch einen Nachtisch? Kaffee?«
    »Nein. Nein.«
    »Okay.« Hartmut winkt dem Kellner, bittet um die Rechnung und gibt ihm die Kreditkarte gleich mit. Dann stehen sie vom Tisch auf, er hilft ihr in die Jacke und sieht sich ein letztes Mal um, ob wirklich kein bekanntes Gesicht ihn beobachtet. Im Übrigen glaubt er nichts von dem, was gerade geschieht. Die Bedienungen an der Theke danken und wünschen einen guten Abend. Niemand sagt

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