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Fluch der 100 Pforten

Fluch der 100 Pforten

Titel: Fluch der 100 Pforten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Wilson
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müsse nicht sterben, bevor er nicht hundert war. Und dass er es dann nicht mitbekommen würde. Oder dass er überhaupt nicht sterben müsse. Wobei dies ja genau das war, was Darius wollte. Und das, was Nimiane bereits erreicht hatte. Vielleicht war es dann doch noch besser zu sterben.
    Henry hatte das Gefühl, beten zu wollen. Er wusste allerdings nicht warum, und er konnte sich auch nicht erinnern, wann er das letzte Mal gebetet hatte. Er nahm seinen Rucksack ab und stellte ihn vor sich in das Fach. Der feine Luftzug wehte warm gegen seine Hände.
    »Lieber Gott«, sagte er. Dann schwieg er. Was sollte er sonst noch sagen? Mach, dass alles gut wird? Töte Darius im Schlaf? Mach die Welt sanft und freundlich?
    »Lieber Gott«, sagte er noch mal.
    Dann nahm er seinen Rucksack und schlüpfte in das Fach.
     
    Weiche Erde gab unter seinen Handflächen nach. Moos quoll zwischen seinen Fingern hervor. Er schob seinen Rucksack vor sich her und griff mit beiden Händen in Büschel von warmem Gras. Er sah den Himmel und die Baumkronen, die sich
im Wind wiegten und den Himmel am Bauch kitzelten. Er sah die graue Felsenplatte, über deren Oberfläche die Hitze flimmerte, und er kroch hinaus in die Sonne.

VIERZEHNTES KAPITEL
    D er Raggant blähte die Nüstern und sah sich um. Er kannte diese Welt gut. Er war nicht allzu lange von hier fort gewesen. Vieles war gleich geblieben. Aber die Flüsse hatten sich verändert. Für einen Menschen wäre es so gewesen, als wenn ein Strom, den man von Kindheit an kennt, plötzlich in die entgegengesetzte Richtung fließt. Oder noch schlimmer: Wie wenn man jemanden für ein paar Tage verließe und ihn bei der Rückkehr im Todeskampf anträfe. Der Raggant war aber kein menschliches Wesen, und er verfiel auch nicht in Panik wie ein Mensch. Er saß auf dem dicken Ast eines Baumes und atmete – langsamer, tiefer und geräuschvoller als ein menschliches Wesen -, während seine Sinne das Raster dieser Welt neu vermaßen. Er brauchte dazu keine künstlichen Begriffe wie Koordinaten oder irgendwelche Maßeinheiten. Der Orientierungssinn des Ragganten glich einem Spinnennetz. Sofern Spinnen mit Farben arbeiten, die Sterne am Geschmack ihres Lichtes erkennen und Töne sehen können.
    Der Raggant besaß keine zusätzlichen Sinne. Eigentlich hatte er nur diesen einen, und der überspielte alles in eine
höchst komplizierte aber absolut präzise Abbildung der Welt, in der er sich gerade befand.
    Es gibt nur ein einziges Lebewesen, das noch komplexer und ausgeklügelter arbeitet als der Raggant: eine gewöhnliche Biene. Bienen sind in der Lage, jede einzelne Blüte innerhalb ihres Fluggebietes zu benennen und die Qualität des Nektars zu steigern, indem sie jede Ernte nach dem Lichteinfall und der Lichtbrechung, dem Zeitpunkt des Sammelns, dem Luftdruck, der Zeit, die seit dem letzten Unwetter vergangen ist und dem Zustand der Blüte klassifizieren.
    Die Bienen hatten den vollen Respekt des Ragganten.
    Und ausgerechnet eine Biene war es, die ihn jetzt ablenkte. Er fiel von dem Ast, auf dem er gesessen hatte, stellte das Atmen ein und schlug wie verrückt mit den Flügeln, während sich sein herabhängendes Hinterteil dem Boden näherte. Er landete unsanft auf einem Bett aus Piniennadeln und blieb dort einfach hocken.
    Ab nun setzte er alles, was er wahrnahm, in Bezug zu vier Fixpunkten: zu sich selbst, zu dem Ort, an dem er geboren worden war, zu der Frau, die ihn aufgezogen hatte und zu Henry York. Er wusste, wo er sich befand. Das Schiff, auf dem er geboren worden war, lag gleich vor dem nächsten Kontinent und nur ein paar hundert Meter unter der Wasseroberfläche, zwischen einem laut tosenden Felsen und ein paar schwermütigen roten Korallen. Die Frau befand sich auf der anderen Seite der Berge. Und Henry York – er hatte ihn tatsächlich gefunden! Das war ein Erfolg. Ein erster Erfolg. Danach hatte er nach einem Weg Ausschau gehalten, der einerseits groß genug und andererseits sicher genug war, um Henry
durch die Nahtstellen der Welten hindurch wieder zurückzubringen. Inzwischen hatte sich ein solcher Weg aufgetan – aber kurz vorher war Henry verschwunden. Als der Raggant mitbekommen hatte, dass Henry weg war, war er Hals über Kopf zurückgeeilt und in der Übergangszone auf ein Ding getreten, das zwar keine Beine hatte, dafür aber Reißzähne am Hinterteil. An der Stelle, wo das Ding zugebissen hatte, tat ihm immer noch der Schenkel weh.
    Der Raggant betrachtete die von Dickicht und

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