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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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Vernunft, sondern meist auch einen ganz realen Klang besitzt, der aus einem fremden Mund den Weg in die Welt gefunden haben muss, bevor er im eigenen Kopf heimisch wird.
    Protestanten, so hat es ein einfühlsamer Historiker mal gesagt,sind traurig. Doch sie können einander trösten. Keiner von ihnen, auch nicht der Pastor, kann an Gottes Stelle eines Amtes walten. Aber Gott hat ihnen allen eine Stimme gegeben. Ohne den Glauben an ihre irdische Stellvertreterschaft kann diese Stimme nicht mit der gleichen Sicherheit freisprechen wie die eines katholischen Priesters, und sie kann nichts offenbaren. Aber sie kann die Stimmung heben. So sehr haben die Protestanten sich im stimmungsvollen Gebrauch ihrer Stimmen gefunden, dass sie, wenn es ihnen die Scham nicht verböte, sagen könnten: Wer wir sind, das lässt sich nur schlecht zeigen, weil unsere Kirchen klein und schmucklos sind oder groß und hässlich, weil wir ohne Bilderwand und Weihrauchdampf auskommen, weil unserem Ritus die Kraft zum Symbol fehlt. Aber schließe die Augen und höre uns zu! Komm in unser Haus und lausche, wie wir uns Mut ansingen, wie wir singend unsere Schwermut vertreiben, wie das Bittere in unserer Musik süß wird. Es mögen die alten Lieder sein, die Sonntag für Sonntag in jeder noch so kleinen Gemeinde gesungen werden, oder die großen Kantaten und Oratorien, für die sich an hohen Feiertagen im Dom unsere Münder mit den Mündungen von Orgelpfeifen, Posaunen und Trompeten zum Konzert vereinen. Und dann höre, wie zu uns gesprochen, wie uns gepredigt wird! Gerade unser Pastor tut es bewegender als alle anderen, so schön, dass du seine Sprache nicht verstehen musst, um ergriffen zu sein, um zu spüren, wie er unserer Furcht seine Stimme leiht, wie unserer Wehmut im Angesicht des Alls, wie dem Leid, das Christus für uns auf sich genommen hat, wie dem Zorn und den Geboten Gottes, wie unserer Hoffnung auf seine Gnade, und um ihn aus dem Evangelium lesen zu hören, als geleite ein väterlicher Freund uns ins Reich der Träume. Nochim Schlaf hören seine Kinder diese Stimme. Hölderlin, Nietzsche, Benn. Danke, deutsches Pfarrhaus.
    Befiehl du deine Wege
    und was dein Herze kränkt
    der allertreusten Pflege
    des, der den Himmel lenkt.
    Der Wolken, Luft und Winden
    gibt Wege, Lauf und Bahn,
    der wird auch Wege finden,
    da dein Fuß gehen kann.
    250 Jahre professioneller Protestantismus sind ein mächtiges Erbe. Pastoren, Superintendenten, Diakone, Kantoren – mehr noch als die Staatsämter und die historische Gelehrsamkeit waren das die Berufe, durch die sich die im Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt ansässige Familie Leo charakterisieren ließ. Heinrich Leo jedenfalls stand zeitlebens unter dem Bann von Predigerstimmen. Sein Schwiegervater – mein Ururgroßvater – Friedrich Ahlfeld gehörte zu den berühmtesten Kanzelrednern des Kaiserreichs. Von weit her strömte man sonntags in die Leipziger Nikolaikirche, um zu hören, wie der strenge Lutheraner gegen die Lichtfreunde, den Liberalismus und andere Verirrungen des modernen Zeitgeists wetterte. Die Stimme von Heinrichs Vater Paul Leo mochte nicht ganz so wortgewaltig gewesen sein, dafür schwieg sie nie. Sie redete ihm nicht nur wie der ganzen Gemeinde Sonntag für Sonntag von der Kanzel ins Gewissen, sondern auch morgens, mittags und abends. Zu Tisch. Zu Bett. Jeden Tag. Das war in den 1880er Jahren gewesen, als der Zweck des deutschen Luthertums vom Anliegen deutscher Kultur undder Staatsräson des Deutschen Reichs kaum zu unterscheiden war. Ein Pfarrer konnte sich damals zu so ziemlich allem äußern: Glauben, Sitten, Kultur, Geschichte, Politik – entscheidend war nicht das Thema, sondern der typisch evangelische Sound, dem nichts zu hoch und nichts zu niedrig war, um seine Schäfchen darüber zu belehren, was unter Gottes Himmel Sache ist und was auf Erden der Fall zu sein hat. Eine derart geltungsheischende und zugleich allgegenwärtige Stimme vergisst man nicht. Mit ihr ist auch nicht gut streiten. Aber man kann sie in sich selbst zum Klingen bringen. Und das tat Heinrich Leo. Er mochte sich Historiker und Gymnasialprofessor nennen, im Grunde war er doch nichts anderes als ein Prediger.
    Kurz vor Kriegsbeginn verfasste er in bester protestantischer Manier eine kleine Bekenntnisschrift. Sie sollte im Falle seines Todes den Söhnen vertretungsweise ins Gewissen reden. Auf zwölf Seiten. Der Titel lautete: Wohin? Woher? Wozu? Geradezu mustergültig führt Heinrich vor, wie man

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