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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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angesichts des Unüberschaubaren souverän bleibt. Eine kluge Gliederung, das wusste der Doctor philosophiae , ist meistens schon die halbe Miete. Also nahm er den großen Fragen ihre einschüchternde Allgemeinheit und verteilte sie auf drei griffige Themenkreise. Erstens: Gott und die Welt. Zweitens: Vom Tode. Drittens: Tun und Lassen. Wer das gelesen hat, weiß alles. Vor allem weiß er, dass das Dasein auf Erden nicht nur kein Zuckerschlecken, sondern geradezu sinnlos ist. Wolle man ein gutes Leben führen, so der Autor, müsse man das Ideal anstreben. Doch man solle es in dem Wissen tun, dass das Ideal nicht mal im Ansatz erreichbar ist. Nicht das Erreichen eines Ziels ist also der Lebenszweck, sondern das nutzlose Ringen darum. Und auch im Himmel warte keine Erlösung,zumindest keine, die sich schon auf Erden versprechen ließe. Aber großer Gott, wozu dann der ganze Schweiß, von dem immer wieder die Rede ist? Wozu die übermenschliche und mit absoluter Gewissheit erfolglose Anstrengung, nach den Sternen zu greifen? Wozu das Verglühen im Angesicht des Ideals? Du willst es wissen, mein Sohn? So höre, was dein erschossener Vater dir zu sagen hat: Du sollst dich plagen, damit du den Tod als Rettung feiern kannst. Denn nicht das Himmelreich ist der Lohn für all die irdischen Mühen. Ihr Ende ist es. Und nur wer seinen Tod ersehnt, der wird aus lauter Verzweiflung vielleicht auch irgendwann zu hoffen anfangen: Zum Tröster über diese furchtbare Wahrheit, schreibt Heinrich Leo in ekstatischer Kriegserwartung, ist uns der Tod gesetzt. Und der Untergang ganzer Geschlechter und Völker. Wer lebenslang gerungen hat um den Besitz der Vollkommenheit, des Unerreichbaren, dem wird die Vernichtung seines irdischen Teils zum Lohn. Und er wird an die Unsterblichkeit der Seele glauben. Das darf man ruhig zweimal lesen. Und dann darf man es neben die Worte stellen, mit denen der Freund Heino Hohnholz seinen langen Nachruf auf Heinrich Leo beschloss, gehalten in der Aula des Vegesacker Realgymnasiums, nachzulesen in der Norddeutschen Volkszeitung vom 7. Mai 1915: Werdet wie er, rief er den versammelten Schülern zu, unter denen sich auch Heinrichs Söhne befanden, werdet rechte deutsche Männer, dann wird unser herrliches Volk und unser liebes Vaterland in alle Zukunft niemals untergehen, sondern blühen in Ewigkeit!
    Wenn er es auch nicht ausdrücklich sagt, einen kleinen irdischen Trost stellt Heinrich Leo seinen Söhnen doch in Aussicht, und das ist die Überlegenheit gegen all jene, die den paradoxen Sinn des Lebens nicht begriffen haben. Die auf irgendein Idyll hoffen, mögen sie es nun Himmelreich aufErden oder Himmelreich im Himmel nennen. Zahl und Art der Namen, die diese Menschen tragen, lassen darauf schließen, dass sie die Mehrheit stellen. Komische Namen sind das. Sie heißen nicht wie man selbst, nicht »Kulturarbeiter«, »Gipfelstürmer«, »Teilhaber an der ewigen Unsterblichkeit«, »Jesus«, »Luther«, »Goethe«, »Kant«, »Bismarck« oder »Leo«, sondern »Nörgler-Individualität«, »nutzloser Fleischklumpen«, »Sozialdemokrat«, »Zentrumsanhänger«, »Chinese«, »Kaffeehausliterat«, »großstädtischer Theaterkritiker«, »Herdenmensch« oder kurz und mit einer Sammelbezeichnung »solche Leute«. All das wissen die jungen Halbwaisen nun. Sollen sie sich also nicht beklagen, dass sie keinen Vater mehr haben. Die Teilhabe am Schatz seiner Erkenntnis hat sie reich entschädigt. Nur eine Frage bleibt offen. Woher wusste der Mann das alles? Sein Tod gibt dieser Frage ein noch größeres Gewicht, denn mit seinem Körper ist ja auch die Unvollkommenheit des Vaters verschwunden. Seine Allwissenheit aber, die bleibt, und sie strahlt reiner denn je. Ein schweres Erbe, das man im Grunde nur auf zwei Wegen antreten kann. Man kann die Allwissenheit akzeptieren und ihr nacheifern. Oder man kann sie als Behauptung auffassen und befragen. Heinrich Leos dritter Sohn wird das eine tun, sein erster das andere.
    Auch Friedrich eignete seinen Kindern eine Bekenntnisschrift zu. Auch er füllte zwölf Seiten. Der Vater hatte über fast alles geschrieben. Der Sohn dagegen schrieb über fast nichts. Dem entspricht in umgekehrter Proportion auch das Verhältnis der Titel. Heinrichs drei letzten Einwortfragen stellt Friedrich einen prätentiösen Doppelnamen gegenüber: Richtsätze des Handelns für tapfere Herzen oder Sittengesetz für einenbewußt lebenden Deutschen lautet er. Wenn zuvor vom Sound des Protestantischen

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