Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Föhn mich nicht zu

Föhn mich nicht zu

Titel: Föhn mich nicht zu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Serin
Vom Netzwerk:
Ende musste ich mich mit Frau Baum auf die tragenden Erwägungen einigen, die die Note in Worte fassten. Wobei mir Frau
     Baum, so wie ich sie kannte, die tragenden Erwägungen wohl eher diktieren würde, als sie im Einvernehmen mit mir zu formulieren.
     Trotz meines dadurch noch bescheideneren Beitrags zur Prüfungsabnahme wäre fürs Protokollieren eigentlich ein Fachlehrer erforderlich
     gewesen. Aber offenbar traute man Englisch jedem Lehrer zu. Oder es waren wirklich alle Englischkollegen krank.
    Mindestens eine Vier brauchte Alpay in dieser Prüfung, um das Jahr nicht wiederholen zu müssen und in die zehnte Klasse zu
     dürfen. Zunächst sollte er spontan zu Themen Stellung nehmen, um zu beweisen, dass er zu Smalltalk in der Lage war. Die Inhalte
     waren allerdings abgesprochen worden. Frau Baum begann mit den Sommerferien, die nur wenige Tage zurücklagen:
    « Tell me, what did you do in your holidays? »
    Alpays Antwort war überraschend:
« Hello , my name ist Alpay. I’m sixteen years old. I have a brother , a sister . My brother is called
|160|
Abdullah, my sister Ayse. I have also a mother and a father . My mother is forty and my father forty five. I like football, music , computer and   …»
    « Holiday!!! What did you do in the holiday?
Was hast du in den Ferien getan, habe ich dich gefragt!», unterbrach ihn Frau Baum in ihrer gewohnt zurechtweisenden Art.
     Ich vermerkte im Protokoll: «Schüler ist nicht in der Lage, spontan auf eine englische Frage zu reagieren
.
» Seinen Text hatte Alpay mit Sicherheit auswendig gelernt. Es sah somit bereits zu Beginn der Prüfung schlecht für ihn aus.
    «Oh , holiday! In my holidays was my family in Istanbul.»
    Ich ergänzte: «Kann auf Nachfragen themenbezogen auf Englisch antworten.»
    «In Istanbul I visited my grandparents. I was on the beach with my friends and I was shopping.»
    «Oh!», freute sich Frau Baum. Doch ihre Anschlussfrage war unerwartet:
«And what did you see in the cinema?»
    An das weitere Gespräch erinnere ich mich leider nur noch vage und in Auszügen:
« I was shopping. Jeans . T-Shirts . And an iPod.»
    «Oh , what was the story of the film?»
    «Yes , it was not so much. In Turkey, it’s not so much. It’s black market. It’s not allowed. But in Istanbul it’s okay.»
    «Did you like the story?»
    «Yes.»
    «Explain it!»
    «Yes . The Jeans was two Million Lire. The T-Shirts one Million Lire and the iPod ten Million Lire.»
    Vielleicht waren die Bezüge zwischen Alpay und Frau Baum auch etwas stärker und meine Erinnerung trügt etwas. Aber ich weiß,
     dass ich mir durchgehend die Frage stellte, ob ich das Protokoll um Bemerkungen zu Frau Baum ergänzen sollte: «Die |161| Lehrerin ist auch nicht in der Lage, auf Äußerungen spontan angemessen zu reagieren.» Aber dazu sollte ich mich eigentlich
     nicht äußern.
    Im zweiten Teil der Prüfung musste Alpay Bilder beschreiben, womit er sich sehr schwertat. Nur unter größter Mühe konnte ich
     seinen radebrechenden Ausführungen inhaltlich folgen. Ich machte ein paar Stichpunkte und konzentrierte mich anschließend
     darauf, die Fehler von Frau Baum zu zählen. Es waren nicht wenige. Dreiundzwanzig Striche setzte ich versehentlich auf den
     Protokollbogen. Man merkte Frau Baum an, dass sie ihre Englischausbildung in der DDR genossen hatte. Die damaligen Möglichkeiten
     waren natürlich nicht mit denen heutiger Studenten vergleichbar. Bei einem anderen Lehrer hätte ich mir die Gehässigkeit,
     die Fehlermenge zu dokumentieren, sicherlich verkniffen. Aber Frau Baum hatte mich oft genug spüren lassen, dass ich für sie
     kein gleichwertiger Kollege, sondern nur ein Referendar war. So wie sie Schüler, die etwas nicht konnten oder wussten, immer
     spüren ließ, dass sie in ihnen nur dumme und faule Jugendliche sah. Das geschah, indem sie betont fassungslos die von einem
     schwarzen Haarband bedeckte Stirn in die Hand des aufgestellten rechten Arms sinken ließ, vorwurfsvoll mit rollenden Augen
     durch ihre rot gerahmte Brille schaute, den Mund spöttisch verzog und laut vernehmlich seufzte.
    Auch Alpay durfte nicht mit ihrer Nachsicht rechnen. Als er den Raum verlassen hatte, damit wir uns beraten konnten, wies
     mich meine Kollegin an: «Schreiben Sie: ‹Der Schüler weist gravierende Lücken auf, die das Verständnis unmöglich machen und
     im jetzigen Klassenverband nicht behoben werden können.›» Das bedeutete eine Fünf. Er wurde nicht in Klasse zehn versetzt.
    

Weitere Kostenlose Bücher