Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Baracke ist in sechs Wohneinheiten aufgeteilt, jede davon ist das Zuhause eines Vorarbeiters, die meisten von ihnen alleinstehende Männer. Das ist kein Ort für eine Ehefrau und schon gar keiner, wo man hoffen könnte, eine zu finden. Die Oberaufseher wohnen in Valenciennes. Die Besitzer und Anteilseigner sitzen in Paris, wo sich die Bergwerke in ihren Gedanken als wundersame Löcher im Boden darstellen, aus denen man schlicht und einfach Geld schaufeln kann.
Schon seit Stunden kündigt sich Schnee an. Nun, gerade als der Ingenieur das Lager betritt, beginnt es zu schneien. Er erinnert sich an Lecoeurs Unterkunft; seine eigene lag fast ein Jahr lang genau daneben: die zweite beziehungsweise dritte Wohnung in der zweiten Baracke. Vor seinem vorderen Fenster hatte Lecoeur damals einen kleinen Garten, einen Flecken bestellten Bodens, wo er im Sommer Zwiebeln und Salat und ein paar Ringelblumen zog. Jetzt ist keine Spur davon zu sehen.
Er pocht an die Tür, wartet, klopft erneut. Auf seinen Schultern, seiner Hutkrempe bleibt Schnee liegen. Er will gerade zum drittenmal klopfen, als die Tür aufgerissen wird, und da steht Lecoeur, in der Hand eine Kerze, deren Flamme sich flackernd zur Seite biegt.
»Freund!« ruft er. »Mein lieber Freund! Ich bin fast von Sinnen vor lauter Warten!«
Die Kerze erlischt. Im Dunkeln gehen sie einen kleinen Flur entlang. Sie kommen ins Wohnzimmer. Nachdem sie eine Weile nach den notwendigen Utensilien gesucht haben, wird die Kerze wieder entzündet. Lecoeur steht mitten im Zimmer, triumphierend, verraucht, leicht unsicher.
»Erinnerst du dich noch daran?« fragt er. »Hmm? Siehst du nicht dein früheres Selbst in diesem Lehnstuhl sitzen?«
»Doch«, sagt Jean-Baptiste. Er nimmt das Zimmer in sich auf – den Stuhl mit seinen Blüten aus menschlichem Talg, das mickrige kleine Feuer, die Scherenschnitte von Mutter und Schwester … eine Beständigkeit, eine Unveränderlichkeit, die wie diejenige der Bergarbeiterkolonie nicht von guter Art ist.
Auf dem Tisch ist eine Mahlzeit angerichtet worden. Ein paar Scheiben eingelegter Kalbskopf, gekochte Kartoffeln, Brot, dünn bestrichen mit einer früheren Lieferung der ranzig riechenden Butter. Mitten auf dem Tisch steht eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit, von der Lecoeur nun in zwei Gläser eingießt, wobei er sein eigenes sofort leert und das andere Jean-Baptiste reicht. Sie sitzen einander gegenüber. Jean-Baptiste säbelt an der Kalbskopfscheibe auf seinem Teller herum (es schmeckt, das arme Ding, als wäre es in seinen eigenen Tränen eingelegt worden). Er nippt an dem Zeug aus der Flasche, sieht schwarze Schneeflocken geräuschlos mit dem Fensterglas kollidieren.
Drei Jahre sind seit ihrer letzten Begegnung vergangen – eine hastige Umarmung im Nieselregen an der Poststation in Valenciennes. Welche Härten haben diese Jahre dem Mann auferlegt, dass er derart ausgehöhlt wirkt? Er ist nicht älter als fünfunddreißig, womöglich sogar jünger, sieht aber aus wie fünfzig und krank. Die meisten Zähne fehlen. Seine Nase ist geschwollen, großporig, von geschwollenen Adern durchzogen. Er ist erbärmlich dünn und nervös. Sobald er angefangen hat zu reden, kann er nicht mehr aufhören, und was durchaus fröhlich begonnen hat, wird nach und nach zur Beschwerde, zur bitteren Klage, in deren Mittelpunkt das Bergwerk steht, jener Leviathan, jener Zermalmer von Menschenknochen.
Verbringt er so seine Abende? Allein mit einer Flasche, Anklagen in die leere Luft schleudernd? Er trägt eine Weste aus verfilzter brauner Wolle, ein Kleidungsstück, das vielleicht ein Zirkel unverheirateter weiblicher Verwandter gestrickt hat, für die der junge Lecoeur, der Lecoeur mit Zähnen, einst die letzte große Hoffnung der Familie darstellte. Bis er verstummt und mit dem Seufzer eines Liebenden erneut nach der Flasche greift, hat Jean-Baptiste bereits beschlossen, dass er ihn nach Möglichkeit nach Paris mitnehmen muss. Hier wird er keinen weiteren Winter mehr überstehen. Kann er denn wirklich alle seine früheren Fähigkeiten eingebüßt haben? Die ganze geistige Aktivität, die ihn einmal auszeichnete? Mit dem Geld des Ministers, der Autorität des Ministers dürfte es nicht unmöglich sein, ihn hier loszueisen. Es besteht natürlich ein gewisses Risiko. Wie weit hinüber ist er schon? Aber man kann ihn nicht guten Gewissens in Valenciennes lassen.
Er durchdenkt die Sache, versucht in seiner Vorstellung ein plausibles Bild vom ersten Tag der
Weitere Kostenlose Bücher