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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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Lebendiges. »Ich möchte meinen alten Anzug wieder«, sagt er. »Den, den ich getragen habe, als ich mit Saint-Méard bei Ihnen war.«
    Charvet sieht seinen Gehilfen, dann wieder den Ingenieur an. »Ihren alten Anzug? Aber der ist verkauft, Monsieur. An einen Kaufmann, glaube ich. Ist es nicht so, Cédric?«
    Der Gehilfe bestätigt es.
    Jean-Baptiste nickt, lässt den Blick langsam durch den Laden wandern. Auf einer der hölzernen Schneiderpuppen (einem verstellbaren Torso auf einem Holzständer) hängt ein ordentlich geschnittener Anzug aus schwarzer Wolle. Er tritt vor ihn hin, betastet den Stoff, nimmt mit den Augen Maß. »Dann diesen hier. Der wird es tun.«
    » Darin «, sagt Charvet in einem Tonfall, als erklärte er einem Kind etwas, keinem braven, sondern einem törichten Kind, »werden Sie aussehen wie ein Genfer Pastor. Der Anzug hängt nur hier, weil wir eine Auswahl an Schnitten zeigen müssen. Eine große Auswahl, wenn Sie verstehen. Aber für Sie, Monsieur, wird er nicht –«
    »Und dafür«, sagt Jean-Baptiste und knöpft seinen Mantel auf, so dass ein Streifen grüne Seide zum Vorschein kommt, »habe ich keine Verwendung mehr.«
    Charvet macht eine sonderbare Abwehrbewegung, reckt den Hals, blinzelt übertrieben. »Dabei erinnere ich mich, Monsieur, wie gut er Ihnen gefallen hat, als Sie ihn gekauft haben.«
    »Tatsächlich?« Die Frage ist ehrlich gemeint.
    »Sie wollten mehr à la mode sein.«
    »Moderner?«
    »Ganz recht. Sie … können sich nicht entsinnen?«
    »Ich erinnere mich, dass ich betrunken war. Und dass man mir geschmeichelt hat.«
    »Es ist trotzdem ein ausgezeichneter Anzug.«
    »Es ist ein Anzug, den ich nicht mehr haben will. Und den Hausrock habe ich auch zurückgebracht«, sagt Jean-Baptiste. »Den Rest ebenfalls. Da. Auf dem Stuhl.«
    Charvet und der Gehilfe betrachten den Stuhl, das Paket, die aus dem Papier heraushängende Zunge aus rotem Damast.
    Er probiert den schwarzen Anzug an. Nachdem hier und da etwas abgesteckt worden ist, sitzt er erstaunlich gut, die Farbe wirkt unmittelbar beruhigend, obwohl es stimmt, dass Jean-Baptiste tatsächlich an einen Genfer Pastor erinnert. Charvet überlässt die Änderungen seinem Gehilfen. Er steht mit verschränkten Armen daneben. Ab und zu blickt er, leicht angewidert, auf den ramponierten Kopf des Ingenieurs.
    »Dieser Anzug«, sagt er endlich, »mag schlicht sein, aber er ist nicht billig. Und der andere ist viel getragen worden und hat, wie ich sehe, Flecken am Ärmel. Fettflecken, wenn ich mich nicht irre. Fett oder etwas noch Schlimmeres. Ich werde gezwungen sein, ihn mit einem Abschlag zu verkaufen. Einem beträchtlichen –«
    »Der alte von mir, den Sie hatten«, sagt Jean-Baptiste, der vorsichtig wieder in seinen Reitmantel schlüpft und ihn zuzuknöpfen beginnt, »der, den Sie an einen Kaufmann veräußert haben. Er war mehr wert als Ihr ganzer Laden. Dessen entsinne ich mich ganz deutlich.« Er sieht Charvet an, bis dieser sich abwendet. Er geht zur Tür. Der Gehilfe beeilt sich, sie ihm aufzuhalten. Schiere Macht der Gewohnheit.
    In seiner Manteltasche steckt der Schlüssel zum Friedhof, zur Pforte in der Rue aux Fers. Die Hände in den Taschen, hält er den Schlüssel in einer Faust und überquert den Markt. Er überlegt, ob er Hunger hat – zum Frühstück hat er nichts als etwas Suppe gegessen, eine gesunde Brühe, noch bevor es richtig hell war. Er bleibt am Eingang zu einer der Fischbuden stehen. Irgendwie ist der Markt anders für ihn, er empfindet ihn als anders, obwohl er nicht sagen kann, inwiefern. Er sieht genauso aus wie ehedem – die gleichen Stände, die gleichen rotgesichtigen Standbesitzer mit ihren rissigen Fingern, die gleichen heiseren Rufe, der gleiche Matsch. Er geht in die Fischbude, steht in den triefenden Schatten zwischen Wasserlachen, die von Fischschuppen glänzen, und atmet tief. In der Nase verspürt er eine Empfindung von Kühle, von Feuchtigkeit, aber nichts, was man als Geruch, als Gestank bezeichnen könnte. Ist das also auch weg? Zumindest ist es ein Symptom, das er Dr. Guillotin bekennen kann, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen …
    Und dann ist er da, in der Rue aux Fers, wo sich brauner Rauch über die Friedhofsmauer windet und die schwarzen Buchstaben – die immer noch frisch aussehen – auf ihn warten: » FETTER KÖNIG METZE KÖNIGIN NEHMT EUCH IN ACHT! BECHE GRÄBT EIN LOCH TIEF GENUG UM GANZ VERSAILLES ZU BEGRABEN! «
    Liest er das ab, oder erinnert er sich? Er ist sich

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