Frischluftkur: Roman (German Edition)
Hanna, ein wenig erschrocken. Schon komisch, so ohne Heinz alleine in dem Haus. Und wie herrlich, mal nicht angebrüllt zu werden!
Aber dann wird die Stille immer lauter. Hanna baut ihre neuen Putzmittel und Wischtücher wie eine Festung um sich herum auf. War es richtig, was sie getan hat?
Ja, denkt sie, das war richtig. Sie schnappt sich das Latextuch, stellt das Radio an und wirbelt zu Barry Manilows Copacabana schwungvoll im Kreis. »Es lebe die Operation Frischluftkur!«, ruft sie. Aber nur ganz leise, damit die Nachbarn sie nicht hören.
4. Kapitel:
Raupenbahn
Freitag, 13. Mai
An warmen Frühlingsfreitagnachmittagen wie heute ist es am schlimmsten. Alle sehen so verliebt und glücklich aus, selbst die Schmetterlinge turteln liebestoll von Blüte zu Blüte. Im Eingangsbereich von Knurres Kramerlädchen liegen stapelweise druckfrische Reiseprospekte aus. Und natürlich sind auch mal wieder »mediterrane Wochen« geplant. Doch zunächst muss die von Fernweh, Weltschmerz und romantischer Liebessehnsucht gequälte Marlies die neuen Länder-Jogurts ins Kühlregal einsortieren: Mexikanische Papayas, Wiener Mehlspeisen, Spanische Blutorangen, Marokkanische Feigen. Ach, was könnte man in Marokko alles machen! Durch die verschlungenen Gassen der Basare flanieren, auf dem Djemaa el Fna den Geschichtenerzählern lauschen (in ihren Tagträumen versteht Marlies alle Sprachen), auf der Terrasse der Villa des Orangers süßen Pfefferminztee trinken. Auf einem Kamel ausreiten, den langen Schleier im Wüstenwind wehen lassen, sich von einem dunkelhaarigen Mann mit scharf geschnittener Nase in ein mit kostbaren Teppichen ausgelegtes Beduinenzelt führen lassen, dort, halb benommen von exotischen Düften und von unterschwellig kribbelnder Leidenschaft, dahinsinken, die Lippen nähern sich und ...
An dieser Stelle blendet Marlies aus. Zu einem Kuss lässt sie es vielleicht gerade mal noch kommen aber mehr, nein, mehr – das muss der Fantasie überlassen bleiben. Aber nicht ihrer.
Ein einziges Mal, im Bus auf dem Heimweg von Du & Deine Welt , ist es ihr gelungen, weiterzumachen, nach dem Kuss, aber dann nie wieder.
»Marlies, kannst du dich mal um die indischen Flugmangos kümmern?«, spricht Evelyn sie von hinten an. Ihre Kollegin ist für die Obst- und Gemüseabteilung zuständig und hat dunkle Ringe unter den Augen. Das kommt aber nicht vom Stress mit dem Salat und den empfindlichen Südfrüchten, sondern von zu wenig Schlaf. Man munkelt, sie ginge dem horizontalen Gewerbe nach. Eindeutiges Indiz dafür ist der große Mercedes mit Hamburger Kennzeichen, der manchmal nachts vor ihrer Tür parkt. Tina und die anderen interessieren sich sehr dafür. Marlies nicht.
Auf jeden Fall bekommt Evelyn deutlich zu wenig Schlaf. Dieses Defizit versucht sie in der Mittagspause, die sie regelmäßig überzieht, auszugleichen. Währenddessen muss Marlies sie vertreten und notfalls die schon misstrauisch gewordene Chefin anlügen. Das ist Marlies ein Gräuel. Sie kann nicht lügen. Sie redet sowieso schon nicht so gerne, dafür ist sie einfach zu schüchtern. Gut, in den letzten Wochen hat sie ein bisschen Selbstbewusstsein gewonnen. Wenn sie an die Aktion mit den frittierten Heuschrecken denkt, erlaubt sie sich manchmal sogar ein vorsichtiges Lachen. Aber sie ist auf jeden Fall noch zu schüchtern, um sich Evelyns Bitte, die dem Tonfall nach genauso gut ein Befehl sein könnte, zu widersetzen.
Die indischen Flugmangos duften verlockend. Marlies wähnt sich sofort auf einem juwelengeschmückten Elefanten durch den Dschungel reitend hinein in eine verwunschene, überwucherte Palastanlage, wo sie von einem geheimnisvollen, äußerst attraktiven und unermesslich reichen Maharadscha erwartet wird. Er hilft ihr vom Elefanten, ihr prachtvoller Sari verrutscht leicht und gewährt ihm einen kurzen Blick auf ihre schlanken, gebräunten Beine. Er führt sie zu einem Himmelbett, dass über und über mit seidenen Kissen bedeckt ist, in die sie sich fallen lässt ...
Und wieder fällt ein dunkler Vorhang. Marlies traut sich einfach nicht, sich vorzustellen, wie es weitergeht. Immerhin hat sie noch nie ... das heißt: fast noch nie. Einmal schon. Das ist aber lange her und war auch nicht annähernd so, wie in den von ihr favorisierten Heftchenromanen beschrieben. Es ist nach einem Feuerwehrball passiert, zwanzig war sie da, und es hatte nichts mit harmonischer Verschmelzung und Liebeslanzen zu tun, die leidenschaftlich in Lustgrotten eintauchen.
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