Frucht der Sünde
Cottage gebracht. Und dort habe ich sie dann auch gesehen.»
«War sie bei Bewusstsein?»
«Ich frage mich», sagte Miss Devenish, «ob sie überhaupt je bewusstlos war.»
Merrily holte tief Luft. «Miss Devenish, sie ist fünfzehn Jahre alt. Sie hat keinen Vater, musste in letzter Zeit ziemlich oft die Schule wechseln, und sie ist … also, sie ist sehr intelligent, aber wohl kaum so erfahren, wie sie es sich einbildet. Gestern Abend war sie mit einem Mädchen unterwegs, das anscheinend schon ziemlich viel …»
«Herumgekommen ist. Ja.»
«Sie sind offenbar von ein paar Jungs … verfolgt worden. Was ich wissen möchte ist, ob, als Sie die Mädchen gesehen haben, irgendetwas auf … also auf …»
«Herumgefummel hingedeutet hat? Nein, Mrs. Watkins. Ich glaube, in dieser Hinsicht müssen Sie sich keine Sorgen machen.»
«Danke. Nächste Frage. Ich weiß nicht, wie viel Cider sie getrunken hat, aber es hat gereicht, um sie außer Gefecht zu setzen. Ich weiß noch genau, wie es war, als ich meinen ersten Kater hatte. Jane aber hat wie ein Baby geschlafen und heute Morgen nicht mal Kopfschmerzen gehabt. Also habe ich mich gefragt … Ich meine, ich habe gehört, Miss Devenish, dass Sie sich mit Kräutermedizin auskennen. Und solchen Sachen. Ich wollte nur …»
«Meine Einschätzung der Situation sagt mir», erklärte Miss Devenish, «dass Sie sie leiden sehen wollten.»
«Na ja», Merrily wandte den Blick ab. «Sagen wir, ich wollte, dass sie es bereut.»
«Natürlich», sagte Miss Devenish, «Sie sind ja Christin, und die Christen scheinen ja zu glauben, dass man nur durch Leiden etwas lernen kann.»
«Und was sind
Sie
, Miss Devenish?»
«Ach, immer diese Etiketten!» Die alte Dame funkelte Merrily an. «Warum muss man immer irgendwas sein? Traherne war zum Beispiel Christ, und trotzdem hatte er die …
Antennen
eines Heiden. Aber ich führe ohnehin nicht gerne solche Diskussionen. Sie wollten wissen, wie sich Ihre Tochter so betrinken kann, ohnedass sie den Kater des Jahrhunderts bekommt, oder? Ich versuche, Ihnen eine mögliche Erklärung zu liefern, ohne dabei Ihre religiösen Gefühle zu verletzen.»
«Tut mir leid», sagte Merrily. «Übrigens bin ich keine verblendete Fundamentalistin. Sie können ruhig reden.»
«Man könnte es Sympathiezauber nennen. Vermutlich halten Sie das für ziemlich verschroben.»
«Ich bemühe mich, das nicht zu tun.»
«Na gut. Es ist wie eine Art Kur. Wenn man sich mit Cider betrunken hat, gibt es keinen besseren Platz zum Schlafen als eine Apfelpflanzung. Einfach ins Zentrum dieser Sphäre kriechen und sich zusammenrollen. Den Rest der Natur überlassen.»
«Sie haben recht. Das
ist
verschroben.»
«Funktioniert auch nicht bei jedem. Der Apfelgarten ist ein gefährlicher Ort, ein abgeschlossenes Ganzes, eine Sphäre. Und dieser Apfelgarten ist sehr alt. Also kann er Ihnen – beziehungsweise
mir
– etwas über Ihre Tochter erzählen.»
«Und was erzählt er
Ihnen
über meine Tochter?»
«Ich will mich wirklich nicht mit Ihnen streiten», sagte Miss Devenish, «aber Sie würden gut daran tun, Ihrer Tochter einfach zu vertrauen.»
Müde öffnete Lol seine Haustür.
Es war fast eine Erleichterung, in der hellen Nachmittagssonne Karl Windling stehen zu sehen.
«Mann, wie
geht’s
dir, Alter?»
«Mir geht’s gut», sagte Lol zögernd. «Und dir?»
«Verdammt gut», sagte Karl ernsthaft. «So richtig … verdammt … gut.»
Und so sah er auch aus. Sie hatten sich vor neun Jahren das letzte Mal gesehen. Er wirkte fitter als damals, gesünder, gepflegter.
«Nettes Häuschen hier», sagte Karl und trat auf den Rasen zurück. Karl war eigentlich gar nicht so groß, wenn man ihn vor sich hatte. Nur in der Erinnerung schien er immer riesig. «Reinste Postkarte, in der du da wohnst. Wie lange bist du denn schon hier, Alter?»
«Ungefähr ein Jahr.» Lol fragte sich, ob er langsam die Hoffnung aufgeben sollte, jemals sein eigenes Leben unter Kontrolle zu bekommen.
«Nett», sagte Karl. «Sieht aus wie ein hübscher Altersruhesitz.»
Lol nickte. Er musste Karl nur zeigen, was für ein Versager, Langweiler und Waschlappen er war. Dann würde er schon wieder gehen.
«Aber du schreibst noch, habe ich gehört. Hast ein paar Songs für Gary Kennedy getextet.»
Lol zuckte mit den Schultern. «Er hat mir seine Tapes geschickt.»
«Du kannst was Besseres machen, Alter. Gary Kennedy ist nicht mehr angesagt.»
«Gute Melodien fallen
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