Frühlingserwachen (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
einmal Vertrauen zu sich selbst fassen kann, der hat auch das Vertrauen in den Rest der Welt verloren.“
Das waren harte Worte. Heftig musste Arrow ein- und ausatmen, um die Fassung zu bewahren. Vor diesem Gespräch hatte die ganze Situation schon sehr trostlos ausgesehen, doch nun hatte Frau Perchta es geschafft, die Sache noch dunkler werden zu lassen.
„Gibt es irgendetwas, das ich tun kann?“, flüsterte Arrow unter stechenden Schmerzen in ihrer Brust.
„Gib ihn nicht auf“, antwortete Frau Perchta zuversichtlich. „Die Gesetze von Himmel und Hölle reichen über die Grenzen ihrer Welt hinaus. Eine Seele wird nach vollem Umfang ihres Vermächtnisses beurteilt. Wenn du ihn aufrichtig liebst und für diese Liebe kämpfst, wird dies eines Tages bis in die Hallen der Unterwelt vordringen und sein Schicksal mitbestimmen.“
Wieder so eine Floskel, dachte Arrow. Was brachte es einem Toten, wenn man über sein Ableben hinaus noch um seine Liebe kämpfte? Dort, wo Melchior jetzt war, bekam er ja schließlich nichts mehr von dieser großartigen, alles überwiegenden Liebe mit. Das waren doch nur Fantasien, deren einziges Ziel es war, der eigenen Trauer etwas vorzumachen.
„Du irrst dich!“, entgegnete Frau Perchta schroff. „Ich selbst herrsche in einer Welt, deren oberstes Gesetz es ist, ausschließlich mit der Härte ungeschminkter Tatsachen konfrontiert zu werden. Wir beschönigen hier nichts! Jeder im Holunderwald bekommt seine gerechte Strafe – nicht mehr, aber auch nicht weniger.“
Erschrocken runzelte Arrow die Stirn. „Könnt Ihr Gedanken lesen?“, fragte sie eingeschüchtert.
„Ja und nein. Ich mache meine Arbeit nicht erst seit gestern und weiß deinen Blick daher sehr wohl zu deuten. Wenn du den Wahrheitsgehalt meiner Worte anzweifelst, bist du die Einzige, die sich hier etwas vormacht.“ Standhaft schaute Frau Perchta ihr in die Augen. Auf den ersten Blick mochte sie die Gebrechlichkeit einer alten Frau wiedergegeben haben, doch ihre Augen sprühten nur so vor Entschlossenheit. Sie erweckte nicht den Anschein, sich für zu weise zu halten, um einen Kampf zu umgehen. Vielmehr schien sie stark und zu allem bereit zu sein. Zu oft schon hatte Arrow miterlebt, dass ein alter Mensch genau wusste, wovon er sprach, jedoch keine großartigen Anstrengungen unternommen hatte, die nächste Generation nicht die gleichen Fehler begehen zu lassen. Alte Menschen ließen den Dingen gern ihren Lauf, was nicht bedeutete, dass daran etwas Schlechtes oder gar Falsches war. Auffällig war nur, dass Perchta sich eindeutig nicht so verhielt.
„Bewahre dir deine Liebe zu ihm“, redete Frau Perchta auf sie ein. „Eines Tages wird sie euch beiden Flügel verleihen.“
Ein dankbares Lächeln huschte über Arrows Lippen. Doch als die Erinnerungen an jene unheilvolle Nacht zu ihr zurückkehrten, erstarb es sogleich wieder. „Was ist mit den anderen?“, fragte sie ängstlich. „Damals, als die Wilde Jagd in Nebulae Hall eingefallen ist, habe ich so viele Schreie gehört. Was ist mit all den Leuten geschehen?“
„Denkst du etwa, dass du ihr Schicksal besiegelt hast?“, fragte Frau Perchta mit hochgezogenen Augenbrauen.
Arrow schwieg und schlug die Augen nieder.
„Die Leute reden viel über den Holunderwald“, sagte Frau Perchta nachdenklich. „Trotzdem ist nicht alles, was man sich erzählt, auch wahr. Nicht jeder, der unseren Weg kreuzt, wird von uns mitgeschleift, hierher verschleppt und bis zur Erschöpfung gequält. Nur diejenigen, die es nicht anders verdient haben, werden von diesem Schicksal ereilt – so wir sie denn zu fassen kriegen. Alle, die reinen Herzens sind, werden von meinem Gefolge ausnahmslos verschont.“
„Das hat mir vorher noch nie jemand gesagt“, bemerkte Arrow erstaunt.
„Das überrascht mich nicht im Geringsten. Geschichten, die dazu dienen, Angst zu verbreiten, halten sich immer hartnäckiger als positive Erzählungen. Gelegentlich hört man sie auch, doch sie verschwinden überraschend schnell wieder aus den Köpfen der Leute. Außerdem sind Begegnungen dieser Art äußerst selten. Denn vor allem solche, die nichts zu verbergen haben, pflegen die Vorschriften zum Schutz vor der Wilden Jagd nach allen Regeln der Kunst. Viele unter ihnen fürchten sich vor dem Leben und davor, ein Risiko einzugehen. Statt eigene Erfahrungen zu machen, wollen sie keine Fehler begehen, die vor ihnen schon andere begangen haben. Lieber verkriechen sie sich in ihren Häusern und warten
Weitere Kostenlose Bücher