Fünf
sich nicht durch die Finger gleiten lassen durften.
Es fiel ihnen niemand auf, als sie vor dem Haus aus dem Wagen stiegen. Auch ihnen schenkte niemand die geringste Aufmerksamkeit. Eine Frau mit Einkaufskorb in der einen und einem quengelnden Kleinkind an der anderen Hand bahnte sich ihren Weg an ihnen vorbei, das war alles.
Graciella Estermann stellte sich als hübsche, dunkelhaarige Frau Mitte dreißig heraus, die es sichtlich schwierig fand, auch nur eine Minute ruhig sitzen zu bleiben. «Nach Ihrem Anruf habe ich die Kinder zur Schule gebracht und danach fünf- oder sechsmal versucht, Rudo zu erreichen, aber es geht immer die Sprachbox an.» Ihr Akzent war hörbar, ihre Grammatik aber einwandfrei. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und fixierte Florin. «Was ist los?»
Es gab kein Foto von Estermann an der Wand oder einem der Regale, nur Bilder von zwei Kindern – als Babys, als tapsige Dreijährige, als Schulkinder mit Zahnlücken.
«Bevor wir weitersprechen, würden wir Sie bitten, uns ein Foto Ihres Mannes zu zeigen.»
«Warum?» Sie wirkte nicht im Geringsten besorgt, eher interessiert. Cool, das war es.
«Das erklären wir Ihnen gern, wenn wir es gesehen haben.»
Die Reihenfolge gefiel ihr nicht, das war offensichtlich, doch schließlich zuckte sie mit den Schultern und kramte aus dem Bücherregal ein kleines Fotoalbum hervor.
«Madre de Dios», murmelte sie und legte es vor Florin und Beatrice auf den Couchtisch.
Hochzeitsfotos. Schon das erste Foto stellte klar, dass sie nicht weiter suchen mussten. Der Rudolf Estermann auf dem Bild ähnelte dem Toten stark, auch wenn er zum Zeitpunkt der Aufnahme jünger und schlanker gewesen war, zwei Augen und eine Unterlippe gehabt hatte.
Beatrices und Florins Schweigen dauerte offenbar eine Spur zu lange, denn Graciella Estermann zog umgehend die richtigen Schlüsse.
«Etwas ist mit Rudo passiert, nicht wahr? Sagen Sie mir jetzt endlich, was?»
«Wir haben in der vergangenen Nacht einen Toten ohne Papiere gefunden. Dabei dürfte es sich leider um …»
«Rudo?» Sie war laut geworden, als mache der Gedanke sie wütend. «Er ist wieder betrunken gefahren und diesmal gegen einen Baum?»
«Nein. Es besteht die Möglichkeit, dass er ermordet worden ist.»
Das brachte die Frau zum Schweigen. Sie hob langsam die Hände an den Mund, wie um sicherzustellen, dass ihr kein Ton entweichen würde.
«Ermordet? Aber … nicht in einem Streit oder einer Rauferei getötet?», fragte sie schließlich.
Eine merkwürdige Frage.
«Wäre das denn zu erwarten gewesen?»
Leises Bedauern zeichnete sich in Graciella Estermanns Gesicht ab, als hätte sie die Frage gern zurückgenommen. «Nicht zu erwarten, aber auch keine Überraschung.»
Beatrice beugte sich vor. «Erzählen Sie mir von Ihrem Mann.»
«Er trinkt viel und betatscht andere Frauen.» Sie stand auf, ging zum Fenster, dann zum Bücherregal. Nahm ein Buch heraus, betrachtete es, stellte es wieder zurück, nahm ein anderes. «Er ist kein guter Mann. Da können Sie alle Leute fragen, die ihn kennen.» Mitten in der Bewegung hielt sie inne. «Aber ich habe ihn nicht getötet, falls Sie das glauben!»
Sie erhielten keine Gelegenheit, darauf zu antworten, denn Graciella Estermann sprach einfach weiter. Binnen zehn Minuten kannten sie einen Großteil ihrer Lebensgeschichte, vor allem aber die Geschichte ihrer Ehe. Estermann hatte Graciella in Mexiko kennengelernt, wo sie in einem Hotel gearbeitet hatte. Es war schnell gegangen, alles: Liebe, Ernüchterung, Distanz, Abneigung. Zwei Kinder.
«Sie sehen nicht erstaunt aus», sagte Beatrice schließlich. «Bei einem Mordfall macht uns das doch etwas stutzig.»
«Sie wären auch nicht erstaunt», gab die Frau zurück. «Rudo hatte mehr Streit in seinem Leben als jeder andere Mann, den ich kenne. Es musste ihn nur jemand schief ansehen, das reichte ihm schon. Er hat Autoscheinwerfer eingetreten, wenn ein anderer ihm einen Parkplatz weggeschnappt hat. Hat einmal einen Kellner geohrfeigt, der ihm die falsche Beilage zum Steak gebracht hat.» Sie betrachtete das Buch in ihren Händen.
Um Unauffälligkeit bemüht, versuchte Beatrice blaue Flecken an den Armen oder im Gesicht zu entdecken. Nein. Nichts.
«Mich hat er schon lange nicht mehr angerührt», sagte die Frau lächelnd. Sie war wirklich gut, offenbar hatte sie Beatrices Gedankengänge trotz aller Bemühungen um Höflichkeit erahnt. «Weder so noch anders. Die Kinder auch nicht. Er war wenig zu
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