Fünf
zog die fusselige Decke vom Lehnstuhl zu sich heran und legte sie sich über die Schultern.
Schon mit seiner Anmeldung auf der Seite von geocaching.com hatte der Owner seine Absichten klar dargelegt. Er würde den Tod bringen. Doch niemand hatte seine Botschaft begriffen – auch Herbert Liebscher nicht.
Dagmar Zoubek war eine der Frauen, die auf den ersten Blick Respekt einflößten. Groß, mit straffem Rücken und einem ebensolchen Haarknoten im Nacken erinnerte sie Beatrice an die Ballettlehrerin, die ihr mit ungeduldigen, knochigen Händen die Zehen nach außen gedreht hatte, damals, als sie sechs Jahre alt gewesen war. Doch Zoubek unterrichtete Flöte, nicht Tanz.
Beatrice hatte die Entscheidung spontan getroffen. Die Vorstellung, sich durch endlose Namenslisten quälen zu müssen, war ihr am Morgen so unerträglich erschienen, dass sie sich für den direkten Weg entschieden hatte. Sie würde eine Zerrissene suchen, keine Dunkelhaarige mit finsterem Namen.
Sie saßen in einem der kleinen Proberäume, in dem ein Steinway-Flügel den Großteil des Platzes für sich beanspruchte.
«Es gibt viele Schülerinnen, die Krisen durchlaufen», erklärte Zoubek nach längerem Nachdenken. «Der Druck hier ist erträglich, aber manche sind ihm trotzdem nicht gewachsen. Ich bräuchte schon ein paar Anhaltspunkte mehr von Ihnen.»
«Sie müsste auch noch Komposition studiert haben. Und aller Wahrscheinlichkeit nach war sie dunkelhaarig.»
Man musste Zoubek zugutehalten, dass sie das spöttische Flackern in ihren Augen zu verbergen suchte. «Dunkelhaarig? Wissen Sie, manche Mädchen wechseln ihre Haarfarbe monatlich.»
Ob Zoubek bei ihren Schülern beliebt war? Schwer vorstellbar. Das Lehrerinnenhafte schien im Verhalten dieser Frau so fest verankert zu sein wie die Nase im Gesicht.
«Das Problem ist», erklärte Beatrice, «dass ich den Zeitraum nicht einmal annähernd eingrenzen kann. Die Schülerin könnte das Institut ebenso vor sechs Jahren verlassen haben wie vor sechs Monaten. Es besteht sogar die Möglichkeit, dass sie immer noch hier ist. Die Daten, über die ich verfüge, sind sehr vage.»
«Da muss ich Ihnen recht geben.» Beatrices Eingeständnis schien Zoubek milder zu stimmen. «Persönliche Krisen. Lassen Sie mich nachdenken … ja, eine Studentin hat vergangenes Jahr ihre Eltern bei einem Autounfall verloren und ist daraufhin nach München zurückgekehrt. Sehr tragisch war das.» Die Frau hielt einen Moment inne und senkte den Kopf. «Ein begabtes Mädchen. Allerdings war ihr zweites Fach Gesang, nicht Komposition, und ihr Haar war hell.»
«Würden Sie mir trotzdem ihren Namen nennen?»
«Tamara Hassmann.»
Dunkel wie der Hass? Hätten die anderen Eckpunkte gestimmt, wäre es zumindest einen Versuch wert gewesen, mit Tamara Kontakt aufzunehmen, aber so konnte Beatrice sie getrost ausklammern. Der Owner war exakt in seinen Angaben.
«Fällt Ihnen noch jemand ein? Gab es möglicherweise Selbstmordversuche? Selbstverletzendes Verhalten? Oder Aggression gegen andere?»
An der Art, wie Zoubeks Augen zur Seite wanderten, erkannte Beatrice, dass die Fragen in ihrem Gegenüber etwas zum Klingen gebracht hatten. «Ja?», hakte sie nach. «Was immer Ihnen einfällt, sagen Sie es mir bitte, es könnte exakt die Information sein, die ich suche.»
«Dieses schüchterne Mädchen … ein bisschen plump und ständig auf Diät. Dunkles Haar, ja. Ich habe sie in Querflöte unterrichtet, und wenn ich mich nicht täusche, war Komposition ihr zweites Fach. Sie war sehr bemüht – weniger begabt als andere, dafür aber fleißig.»
Fleiß war, wenn Beatrice sie richtig einschätzte, in Zoubeks Universum eine unverzichtbare Tugend. «Was ist mit ihr passiert?»
«Es ist wirklich lange her. Damals war sie gar nicht mehr in meiner Klasse, sondern hatte zum Kollegen Horner gewechselt, doch ich glaube, sie hatte eine Art Zusammenbruch. Musste mit dem Rettungswagen geholt werden und hat unsere Universität kurz darauf verlassen.»
«Können Sie sich noch erinnern, wie dieser Zusammenbruch sich geäußert hat? Wovon er ausgelöst wurde?»
Energisches Kopfschütteln. «Ich war nicht dabei, habe nur gehört, dass sie zu schreien und zu weinen begonnen haben soll und niemand sie beruhigen konnte. Vielleicht sprechen Sie doch besser mit Doktor Horner, der wird es genauer wissen.»
Gerne, dachte Beatrice. «Sagen Sie mir bitte den Namen des Mädchens?»
Demonstrativ nachdenklich schürzte Dagmar Zoubek die Lippen.
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