Fünf
«Es war ein langer Name, nicht ganz einfach zu merken – ich müsste nachsehen.»
«Das wäre sehr freundlich.»
Mit dem Ausdruck missmutiger Würde im Gesicht erhob sich die Lehrerin von ihrem Stuhl, verließ den Raum und kehrte zehn Minuten später mit einem blauen Aktenordner wieder.
«Hier. Melanie Dalamasso. Flöte, Komposition. Es gibt da einen Vermerk – exmatrikuliert aus gesundheitlichen Gründen, vor ungefähr fünf Jahren.»
«Danke.» Beatrice schüttelte der Frau die Hand und ging hinaus an die frische Luft, in den Mirabellgarten, den eine trübe Sonne beschien. Sie fand eine Parkbank und streckte die Beine von sich.
Volltreffer. Eine weitere Suche erübrigte sich, Dalamasso war ein italienischer Name und passte perfekt zu den dunklen Haaren, die der Owner erwähnt hatte. Und Beatrice würde nicht einmal Google bemühen müssen, um den Rest des Rätsels zu lösen. Als Kind hatte sie ein Namenslexikon besessen und hingebungsvoll darin geblättert, wann immer sie jemanden kennengelernt hatte.
Ihr eigener Name war in diesem Zusammenhang oft Anlass für Heiterkeit gewesen, denn Beatrice hieß
die Seligmachende
. Ihre beste Freundin in der Schule hatte auf den Namen Nadine gehört – Hoffnung. Aber eine Reihe vor ihnen hatte Melanie gesessen, ein rotblondes Mädchen mit Sommersprossen im Gesicht, am Hals und auf den Armen. Sie hatten sich immer wieder darüber kaputtlachen können, dass Melanie
die Dunkle
bedeutete.
Melanie Dalamasso hatte nicht nur zu studieren aufgehört, sondern, wie es schien, ihr gesamtes eigenständiges Leben ad acta gelegt. Sie lebte bei ihren Eltern, hielt sich aber von acht Uhr morgens bis halb fünf Uhr abends in einer psychiatrischen Tagesklinik auf.
«Sie wird rund um die Uhr bewacht, aber wir werden sie nicht befragen, noch nicht.» Florin sah einen nach dem anderen an, bis sein Blick an Hoffmann hängenblieb. Der nickte schließlich.
«Jeder, der sich ihr nähert, wird von unseren Leuten genauer unter die Lupe genommen. Ich habe mit ihren Eltern gesprochen und mit dem behandelnden Arzt, von beiden Seiten bekommen wir volle Unterstützung. Sonst leider nichts, das uns weiterhelfen würde – niemand weiß, was der Auslöser für Melanies Krise war.» Er nahm von Stefan ein Glas mit Wasser entgegen und trank einen Schluck. «Sie soll immer schon schwierig gewesen sein, mit einem Hang zu depressiven Verstimmungen.»
Beatrice hatte sich die Aussagen der Eltern noch vor der Besprechung durchgelesen: Sie waren mit ihrer Weisheit am Ende. Sie beschrieben Melanie als schweigsames, in sich gekehrtes Mädchen, das sich von klein auf mit ihrer Flöte eingeigelt hatte. Das erste Mal war sie mit acht Jahren bei einer Psychotherapeutin gewesen, weil sie zu essen aufgehört hatte, nachdem zwei Mädchen aus ihrer Klasse auf die originelle Idee gekommen waren, ihr den Beinamen «italienisches Nilpferd» zu verpassen.
Was manche andere Kinder mit tränenreichem Petzen bei Lehrern und Eltern oder mit Tritten gegen die Schienbeine der Spötterinnen beantwortet hätten, warf Melanie für Wochen aus der Bahn. Sie machte einen Schulwechsel zur Bedingung dafür, wieder Nahrung zu sich zu nehmen. Die Eltern gaben nach und meldeten sie bei einer Privatschule mit musischem Schwerpunkt an. Es folgten ein paar Jahre, die glauben ließen, dass sich das Problem «ausgewachsen» habe, wie die Mutter es formulierte. Doch mit Einsetzen der Pubertät begann Melanie unter extremen Stimmungsschwankungen zu leiden, die mit erneutem Hungern und Ess-Brech-Episoden einhergingen. Hätte sie die Flöte nicht gehabt, wäre sie in dieser Zeit vor die Hunde gegangen, glaubten die Eltern. Es folgte ein weiteres Mal psychotherapeutische Intervention und ein dreiwöchiger stationärer Aufenthalt in den Sommerferien.
Mit achtzehn Jahren schaffte Melanie die Aufnahmeprüfung aufs Mozarteum. Sie bezog eine winzige Einzimmerwohnung nahe der Salzach, träumte von einer Karriere als Solistin und verliebte sich in einen Kommilitonen, der ihre Gefühle zwar nicht erwiderte, sie aber immerhin auf nette Weise abblitzen ließ und zu einer Art Freund für sie wurde. Er band sie lose in eine Gruppe von Studenten ein, die wanderten, abends in Cafés oder ins Kino gingen und gemeinsam für musiktheoretische Prüfungen lernten. Eine Zeitlang lebte Melanie sogar mit zwei der Mädchen aus der Gruppe in einer Wohngemeinschaft.
«Sie war nicht mittendrin, aber sie war immerhin dabei, und es ging ihr so gut», wurde
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