Fünf
neue Geschichte, und sie würde anders enden.
Die Hunde hatten auch diesmal keinen Erfolg. «Liebschers Leichenteile sind jetzt alt genug und die Temperaturen hoch genug, um die Folie aufzublähen und irgendwann einreißen zu lassen», orakelte Drasche. «Und selbst wenn nicht – die Hunde würden den Cache riechen. Wir haben Tests gemacht.»
«Aber was soll der Owner jetzt noch verstecken?», durchbrach Beatrice das mutlose Schweigen, in dem die bisherige Rückfahrt zur Zentrale verlaufen war.
Florin wandte langsam den Kopf in ihre Richtung, ohne die Augen von der Straße zu nehmen. «Wie meinst du das? Wir haben längst nicht alles von Liebscher gefunden. Füße, Gliedmaßen, Rumpf – wenn der Owner möchte, hat er noch Inhalt für zwanzig oder dreißig Caches.»
«Aber wir haben den Kopf. Damit ist eine Steigerung eigentlich nicht mehr möglich. Er ist lebenswichtiger als jeder andere Teil des Körpers und klärt definitiv die Frage nach der Identität. Würdest du nach dem Kopf noch Füße oder gar innere Organe ausspielen? Es würde wie ein Schritt zurück wirken.»
«Ausspielen?»
«Ja.» Sie hatte das Wort nicht mit Bedacht gewählt, doch es traf den Kern der Sache. Er einen Zug, sie einen Zug. Sie spielten verzweifelt fair, obwohl sie wussten, dass sie das einen Stich nach dem anderen kostete.
Sie dachte an die Patience auf ihrem Schreibtisch. Das nächste Blatt würde sie alleine ausspielen.
«Meine Tochter wird von Ihren Kollegen nach Hause gebracht. Ich habe den Eindruck, sie fühlt sich nicht ganz wohl dabei, aber ich habe versucht ihr zu erklären, dass es wichtig ist.» Carolin Dalamasso war eine hübsche Frau, kaum älter als fünfzig. Sie hatte Beatrices Bitte, bei ihr vorbeikommen zu dürfen, mit einem freundlichen Ja beantwortet und die Zeit bis dahin offenbar genutzt, um Kuchen zu backen. Der Duft von warmem, süßem Teig erfüllte die ganze Wohnung.
Beatrice lächelte über ihr schlechtes Gewissen hinweg. Der Besuch bei den Dalamassos war streng genommen nicht notwendig – Florin hatte alles Wichtige erfragt und in seinem Bericht zusammengefasst. Nur mit Melanie hatte er nicht gesprochen, sie nicht einmal zu Gesicht bekommen. Aber das war Beatrice zu wenig. Sie wollte, nein, sie musste sich einen Eindruck von der jungen Frau verschaffen. Eine Zerrissene. Ob man das spürte, wenn man ihr gegenüberstand?
«Möchten Sie Kaffee? Stark? Ich habe auch entkoffeinierten.»
Sie hatte weder Hunger noch das Bedürfnis nach dem fünften Kaffee des Tages, aber sie brauchte Zeit. Notfalls würde sie Smalltalk machen, bis die Tochter zu Hause eintraf. «Sehr gerne. Mit viel Milch und ein bisschen Zucker, wenn das geht.»
Die Frau nickte und lächelte. In ihren Augen lag eine Wachsamkeit, von der Beatrice vermutete, dass sie nicht neu war, sondern von der ständigen Beobachtung der psychisch kranken Tochter herrührte.
Zehn nach halb fünf. Theoretisch konnte Melanie jeden Moment nach Hause gebracht werden, je nachdem, wie dicht der Verkehr auf den Straßen war.
«Was kann ich Ihnen erzählen, das ich Ihrem Kollegen mit den schönen dunklen Augen noch nicht gesagt habe?» Mit schnellen, energischen Bewegungen schnitt Carolin Dalamasso drei Scheiben vom Kuchen ab und stellte Tassen auf den Tisch. Dann setzte sie sich.
«Ich würde gerne wissen, wie es Melanie vor ihrem Zusammenbruch gegangen ist. Gab es Ereignisse, die man nachträglich betrachtet als Warnsignale interpretieren könnte?»
Das Lächeln der Frau bekam einen schmerzlichen Zug. «Natürlich. Später ist man immer klüger. Carlo und ich haben danach Dutzende Situationen rekonstruiert, in denen wir aus heutiger Sicht ärztliche Hilfe für Melanie hätten suchen müssen. Aber damals dachten wir, sie regt sich einfach besonders leicht auf, weil sie zum ersten Mal richtig verliebt ist. Sie hatte einen Freund, wissen Sie? Leider haben wir ihn nie kennengelernt, und meine Theorie ist …» Sie seufzte und sah zum Fenster hinaus, wo eine Amsel sich auf dem Balkongeländer niedergelassen hatte, ruckartig um sich blickte und wieder fortflog. «Also, ich denke, dass er sich von Melanie getrennt hat. Sie hat damals noch in der Wohngemeinschaft gelebt und uns eines Abends angerufen, ohne ein verständliches Wort herauszubringen. Sie hat nur geschluchzt, beinahe geschrien. Wir sind sofort zu ihr gefahren, aber da lag sie schon in ihrem Zimmer und wollte nicht mit uns darüber sprechen. Ihre Mitbewohner waren genauso ratlos wie wir.
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