Fünf
Sie waren am Ende ganz froh, glaube ich, dass Melanie in die Klinik eingewiesen wurde. Das war fünf Tage später.»
«Und es hat sich nie ein Hinweis darauf ergeben, was der Auslöser war?»
«Nein. Das habe ich aber Ihrem Kollegen schon alles erzählt.» Die Wachsamkeit in den blauen Augen nahm im gleichen Ausmaß zu, wie ihr Lächeln schmaler wurde.
«Haben Sie ihm auch die Namen von Melanies WG -Mitbewohnern gegeben?»
«Selbstverständlich.» Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee.
Beatrice entschied sich für die Flucht nach vorne. «Der Fall, an dem wir arbeiten, ist außerordentlich fordernd, ich hoffe, Sie verstehen das. Da kommt es vor, dass die Kommunikation zwischen den Ermittlern weniger intensiv ausfällt, als es wünschenswert wäre.» Hatte da gerade ein Auto vor dem Haus gehalten? Hoffentlich. «Ich weiß allerdings, dass Florin Wenninger Ihnen diese Fotos gezeigt hat.» Sie holte die Porträtbilder der Opfer des Owners aus ihrer Tasche. «Ich weiß auch, dass Sie keinen dieser Menschen zu kennen glauben. Aber oft hilft ein Tag Abstand, möglicherweise fällt Ihnen doch noch etwas ein, wenn auch nur zu einem der Gesichter.» Sie legte die Fotos vor Carolin Dalamasso auf den Tisch. Die unlösbare Patience.
«Wir sind davon überzeugt, dass diese Menschen in irgendeiner Art von Beziehung zu Ihrer Tochter gestanden haben, aber wir wissen nicht, in welcher. Bisher war niemand in der Lage, uns in dieser Sache zu helfen. Deshalb muss ich es einfach noch einmal bei Ihnen versuchen. Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel.»
Mit einem hilflosen Achselzucken beugte Carolin Dalamasso sich über die Fotos. «Diese Leute wurden alle umgebracht?»
«Auf jeden Fall vier von ihnen. Einer könnte noch eine Chance haben.»
«Mein Gott.» Sie nahm das Foto von Nora Papenberg und studierte es mit gerunzelten Brauen, schüttelte den Kopf und legte es auf den Tisch zurück. «Ich bin sehr froh, dass Sie Melanie beschützen», sagte sie leise. «Ich begreife nur nicht, warum jemand ihr etwas antun will. Ausgerechnet ihr.»
«Wir versuchen alles, um es herauszufinden, wirklich alles.»
Beils Foto, Sigarts Foto. Immer nur Kopfschütteln.
«Spielt Melanie eigentlich noch Flöte?», erkundigte sich Beatrice.
«Ja. Aber nicht mehr so wie früher. Die Töne, die sie produziert, sind weit von Musik entfernt, sie –» Die Frau hielt inne, lauschte. Beatrice hörte es ebenfalls, ein gedämpftes Surren, dann ein metallisches Geräusch, ein Einrasten. Der Aufzug.
«Ich glaube, das sind sie jetzt.» Carolin Dalamasso stand auf. «Sie können Melanie nicht befragen, das wissen Sie, oder? Im Moment ist sie gerade stabil, und die Ärzte hoffen, dass sich ihr Zustand bessern wird. Es war nämlich schon schlimmer, weit schlimmer und …»
Es klingelte. Die Frau ging in die Diele und öffnete die Tür. Beatrice nahm die Fotos wieder an sich. Ihr war beinahe übel vor schlechtem Gewissen, aber sie musste tun, was sie sich vorgenommen hatte.
Von draußen hörte sie die leutselige Stimme eines der Beamten. «Alles bestens, keine Zwischenfälle. Schönen Abend noch!»
Sie wusste, dass die beiden Polizisten jetzt vor dem Haus Stellung beziehen, sich in ihrem Wagen mit Hot Dogs und Red Bull versorgen und darauf warten würden, dass die Nachtschicht sie ablöste. Sie waren die Guten, und Beatrice beneidete sie.
Im Türrahmen erschien ein Mädchen mit rundem Gesicht. Sie blieb abrupt stehen, als sie sie bemerkte. Ihr dunkles Haar war zu einem Zopf im Nacken geflochten, aus ihren Augen sprach Verwirrung, ein Eindruck, der durch ihre schiefsitzende Brille noch verstärkt wurde.
«Wir haben Besuch, Melanie.» Carolin Dalamasso fasste ihre Tochter um die Schultern und zog sie an sich. «Das ist Frau Kaspary.»
Beatrice hängte sich die Tasche um und stand auf, die Fotos in der linken Hand. Der Blick des Mädchens irrlichterte zu ihr, von ihr weg, wieder zurück. Von wegen Mädchen, dachte Beatrice, in ein paar Jahren ist sie dreißig. «Schön, dich kennenzulernen, Melanie.» Sie streckte ihr die Rechte hin, doch Melanie ergriff sie nicht. Sie sagte kein Wort.
«Ich denke, ich werde dann besser gehen, aber es könnte sein, dass ich mich noch einmal bei Ihnen …» Jetzt. Beatrice öffnete die Finger ihrer linken Hand. Fühlte, wie die Fotos ihr entglitten, hörte das leiste Klatschen, als sie zu Boden fielen.
«Oh. Tut mir leid.»
Sie bückte sich. Die Bilder von Papenberg, Estermann und Beil lagen mit dem Gesicht nach
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