Fünf
Treppenhaus entsprachen Schuhgröße 45 , Sigart dagegen trug Größe 43 . Das Blut in der Wohnung konnte nicht allein von der Abtrennung der Finger herrühren, die fächerförmigen Spuren an der Wand ließen auf die Verletzung eines großen Blutgefäßes schließen. «In circa 160 Zentimetern Höhe, vom Boden aus gerechnet. Wahrscheinlich Sigarts Halsschlagader. Oder die des anderen, nur hätte der dann nicht mehr abhauen können.» Drasches Miene war anzusehen, dass er diese Möglichkeit nicht ernsthaft in Betracht zog, sie aber erwähnt haben wollte. «Ob es sich um Blut von einer oder mehreren Personen handelt, kann ich euch relativ bald sagen.»
In einer dunklen Nische nahe dem Kellerausgang fand Ebner schließlich Sigarts Handy, blutverschmiert. Der Mann, dem es gehörte, hatte sich an die Verbindung mit ihr geklammert. Der Gedanke verfolgte Beatrice bis in den Schlaf.
Es passierte am nächsten Morgen, kurz nach dem Zähneputzen und ohne jede Vorwarnung. Beatrice kauerte sich auf dem Boden zusammen und bemühte sich, nicht bewusstlos zu werden, öffnete und schloss ihre Finger, um wieder Gefühl darin zu bekommen, und verdrängte dabei das Bild von Sigarts Fingern. Das würde alles nur noch schlimmer machen.
Sie hatte seit Jahren keine Panikattacke in dieser Heftigkeit mehr gehabt, und obwohl sie wusste, was da mit ihr geschah, blieb der Gedanke bestehen, dass es diesmal ernst sein könnte.
Ein Herzinfarkt, Herzstillstand, plötzlicher Herztod. Sie rang nach Luft, versuchte, ihren Puls durch bloße Willensanstrengung wieder unter Kontrolle zu bringen. Verfolgte die Bocksprünge ihres Herzens mit einer Mischung aus Belustigung und Verzweiflung.
Atmen. Atmen. An etwas anderes denken.
Die Psychologin hatte ihr damals empfohlen, die Angst anzunehmen, sie zu begrüßen und wieder ziehen zu lassen.
Hallo, Angst.
Sie war da, sie pochte hinter der Brust, den Schläfen, im Hals, im Magen, doch sie reagierte nicht auf Beatrices Gruß. Gab nicht preis, woher sie so plötzlich gekommen war.
Aber Beatrice wusste auch so, was sie geweckt hatte. Sie legte sich flach auf den Rücken, schloss die Augen und versuchte, ruhig zu liegen. Es fühlte sich an, als seien ihre Lungen zu walnussgroßen, harten Klumpen geschmolzen.
Sie imaginierte sich Evelyns Gesicht herbei, die grünen Augen, das dunkelrote gelockte Haar. Die kehlige Stimme. Wenn sie lachte, hatten sich immer alle nach ihr umgedreht.
Es tut mir so leid. So leid
.
Die kühlen Kacheln des Badezimmerbodens drückten hart gegen ihre Schulterblätter. Das Bild der lebenden Evelyn verblasste, die entstellten Züge der Toten verdrängten sie mit all ihrer furchtbaren Kraft. Beatrice riss die Augen auf, konzentrierte sich auf die Decke des Badezimmers, auf die staubige Milchglaslampe direkt über ihrem Kopf.
Sie musste aufstehen, es war so viel zu tun. Sie mussten Sigart finden.
Seine Leiche, meinst du
.
Sie brachte die innere Stimme zum Schweigen, indem sie zu summen begann.
I’m Walking on Sunshine
, ein Lied, das keinen Raum für Panik ließ. Zehn bis fünfzehn Minuten, dachte sie. Länger hat es noch nie gedauert. Das hältst du aus. Ganz bestimmt.
«Sagen Sie, was ist eigentlich mit Ihnen los?» Man konnte Hoffmann mit Sicherheit noch ein Stockwerk tiefer hören, Wort für Wort. «Waren Sie shoppen oder bei der Kosmetikerin? Haben Sie schon mitbekommen, dass wir hier einen Fall haben, der wichtiger ist als Ihre Fingernägel?»
Beatrice wartete, bis sie sicher war, dass ihre Stimme halten würde. «Es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe, aber …»
«Kein Aber!», schrie Hoffmann. «Vier Tote innerhalb einer einzigen Woche! Da haben alle privaten Dinge hintanzustehen!»
Vier? War Sigarts Leiche schon gefunden worden?
«Außerdem missachten Sie meine Anweisungen. Sie können sich freuen, Kaspary, das wird Folgen haben!»
Keine Frage, worauf er anspielte. Sie sah Hoffmann in die Augen, in diese schlammfarbenen, trüben Pfützenaugen, und wartete ab, ob noch etwas kommen würde. Als er nur wortlos den Kopf schüttelte, ließ sie ihn stehen, ging an ihm vorbei auf ihr Büro zu, in dessen Türrahmen eben Florin auftauchte, mit verärgertem Gesicht.
«Es sind drei Tote, nicht vier.» Er strich ihr kurz über die Schulter. «Bist du okay?»
«Ja, sicher», sagte sie leise. «Gar nicht drauf eingehen.»
«Doch. Sorry.» Florin drückte sich an ihr vorbei. Sie hängte ihre Tasche über die Stuhllehne und schaltete den Computer ein. Vom
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