Fuer immer zwischen Schatten und Licht
Morgen, als mir meine Freundin eine zugeknotete Plastiktüte in die Hand drückte.
„Ich hab mein Bestes gegeben“, erklärte sie stolz. „Wenn Rasmus daran keine Freude hat, ist der Mann nicht mehr zu retten. – Mach sie nicht jetzt auf! Hier sind doch überall Lehrer!“
Wenn schon nicht diese Bemerkung, so stimmte mich spätestens das geringe Gewicht der Tüte überaus misstrauisch. Weil ich jedoch keine Lust hatte, die Aufmerksamkeit eines Professors auf mich zu ziehen, stopfte ich das Ding hastig in mein Schließfach und entschied, es erst innerhalb der schützenden vier Wände meines Zimmers zu leeren.
Daheim angekommen, schloss ich leise unsere Haustür auf, die notdürftig mit ein paar Brettern geflickt war, und schlich in den ersten Stock. Meine Eltern hatten sich für diesen Tag freigenommen, um die Schäden zu reparieren, die der vermeintliche Einbrecher hinterlassen hatte. Auch wenn nichts gestohlen worden war, hatten sich die beiden fürchterlich über die Zerstörung ihrer geliebten Möbel aufgeregt – fast ebenso sehr wie darüber, dass ihre Tochter dem Übeltäter „beinahe“ in die Arme gelaufen wäre. Das durfte ich ihnen als Antiquitäten-Freaks wohl nicht übelnehmen; gar nicht auszudenken, wenn so etwas mit meinen Büchern passieren würde. Die Polizisten, von denen das Haus untersucht worden war, hatten meinen Eltern allerdings keine großen Hoffnungen auf die Ergreifung des Schuldigen gemacht. Weil am selben Abend in der Nähe eine Party gefeiert worden war, vermutete man hinter dem Einbruch einen jungen Rowdy, der sich im Suff einen zweifelhaften Spaß erlaubt hatte.
Zum Glück waren meine Eltern – wie immer, wenn sie gemeinsam etwas Handwerkliches erledigten – lautstark am Streiten, sodass ich unbemerkt in mein Zimmer gelangen konnte. Dort holte ich tief Luft und kippte die Tüte über meinem Bett aus.
Was zuerst auf meine Decke purzelte, waren zwei monströse High Heels und ein nicht minder monströser Push-up-BH, beides in Schwarz. Anschließend flatterte ein circa taschentuchgroßes dunkelrotes Etwas heraus, das ich für eine Art Schlauch oder Verpackungsmaterial hielt. Den Namen „Kleid“ verdiente es jedenfalls nicht. Und dann gab es da noch ein Paar Netzstrümpfe inklusive Strapsen.
Nie. Im. Leben.
Als wäre der Kram radioaktiv verseucht, beförderte ich ihn mit spitzen Fingern in die Tüte zurück und pfefferte alles unter mein Bett. Das sollte einem Jungen also Spaß machen – wenn seine Freundin mit schwarzen Folterwerkzeugen, zwei Netzen und einem Stückchen Feuerwehrschlauch bekleidet durch die Gegend lief? Allerdings, rief ich mir ins Gedächtnis, wollte ich damit ja gar nicht Rasmus, sondern ein paar finstere Engelsrichter überzeugen. Und wahrscheinlich war es das wert, sich einmal zum Affen zu machen, wenn man dafür ungeschoren in seine eigene Welt zurückkehren durfte …
Zögernd fischte ich die Tüte wieder hervor und spielte bereits mit dem Gedanken, eine kleine Anprobe zu wagen, als meine Mutter in mein Zimmer platzte.
„Kaum gibt man deinem Vater einen Hammer in die Hand, fühlt er sich wie Thor persönlich“, schnaubte sie. „Ich brauche eine Pause, soll ich dich zum Krankenhaus fahren?“
„Das ist bloß ein Projekt für Biologie“, stammelte ich, bevor mir klarwurde, dass sich gerade niemand außer mir für die Plastiktüte auf dem Fußboden interessierte. „Ähm, ja bitte, ich hole nur schnell ein Buch.“
Obwohl ich in der Schule über den Grund von Rasmus‘ Fehlen gelogen hatte, um nicht so viele Fragen beantworten zu müssen, hatte ich meiner Mutter die Wahrheit anvertraut. Ich war ihr dankbar dafür, dass sie trotz ihrer Abneigung gegen meinen Freund echtes Mitgefühl zeigte und mir nun schon zum zweiten Mal anbot, mich zum Krankenhaus zu chauffieren. Am vergangenen Nachmittag war ich bis zum Ende der Besuchszeit bei Rasmus geblieben und hatte Jane Eyre fast zur Hälfte geschafft. Vermutlich waren wir beide gleichermaßen froh darüber gewesen, dass wir so den unangenehmen Gesprächsthemen entkamen, die über unseren Köpfen zu hängen schienen wie Gewitterwolken. Ich gab mir zwar alle Mühe, optimistisch zu wirken, aber nachdem ich die ratlosen Mienen der Ärzte gesehen hatte, schrumpfte meine Hoffnung zu einem kalten Nichts zusammen.
Auch die heutigen Untersuchungen hatten keine Ergebnisse gebracht, das sah ich Rasmus gleich an, als ich das Zimmer betrat. Genau wie ich verbarg er allerdings rasch seine wahren Gefühle und zwang
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