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Fürchtet euch

Fürchtet euch

Titel: Fürchtet euch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wiley Cash
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noch mal da reinmusste: dass Joe Bill und ich gesehen hatten, was sie am Morgen mit ihm gemacht hatten, dass nicht Stump, sondern ich ihren Namen gerufen hatte, als die vielen Männer sich auf ihn draufgelegt hatten, dass Stump in seinem ganzen Leben noch nie ein Wort gesprochen hatte und wahrscheinlich auch niemals sprechen würde. Ich wusste, dass Stump am Morgen in der Kirche geschrien hätte, sie sollten aufhören, wenn er dazu imstande gewesen wäre, und ich wusste, wenn ich einfach nur den Mund aufmachen und sagen würde, was ich alles gesehen hatte, dass dann ganz bestimmt keiner mehr versuchen würde, ihm weh zu tun.
    Aber ich traute mich nicht, irgendwas davon zu sagen, ich saß einfach da im Pick-up, bei runtergekurbeltem Fenster, und starrte Mama an. Meine Finger schlossen sich fest um den Türgriff, und ich spürte den kleinen Splitterrest, der noch immer in meiner Handfläche steckte.
    »Was ist denn?«, sagte sie, als wäre sie mit ihrer Geduld am Ende.
    »Darf ich nicht doch mitkommen?«, fragte ich wieder. »Bitte.«
    »Zum letzten Mal, nein«, sagte sie. »Bleib im Wagen. Warte, bis wir wiederkommen. Es dauert bestimmt nicht lange.« Ich setzte mich richtig hin und sah ihnen nach, wie sie vom Pick-up weggingen und sich in die Reihe vor der Kirche stellten. Die Leute vor ihnen in der Schlange drehten sich um, und eine Frau umarmte Mama, und ein Mann blickte nach unten und sagte irgendwas zu Stump. Neue Leute stellten sich hinter ihnen an, und nach einer Weile konnte ich niemanden mehr sehen, weil alle reingegangen waren.
    Die Sonne versank hinter den Bäumen auf der Rückseite der Kirche, und ich beschloss, ein bisschen zu zeichnen, solange es noch hell genug war. Ich nahm den Ordner und klappte ihn auf und betrachtete die leeren Seiten Schreibmaschinenpapier, aber dann machte ich ihn wieder zu und legte ihn zurück aufs Armaturenbrett, weil ich überhaupt keine Lust zum Zeichnen hatte. Ich machte es mir so bequem wie möglich, legte den Kopf an die Rückenlehne und schloss die Augen und lauschte auf den Fluss auf der anderen Seite der Straße. Aber ich konnte bloß die Musik in der Kirche hören, als ein Instrument nach dem anderen loslegte und mich daran erinnerte, was alles passiert war und was ich alles gesehen hatte. Ich merkte, dass ich schläfrig wurde, und ich stellte mir vor, wie ich aus dem Wagen stieg und hinter das Gebäude schlich und mich auf Zehenspitzen stellte und die Ellbogen auf das Fensterbrett stützte und durch den Spalt neben dem Klimagerät ins Innere der Kirche spähte.
    Das war der letzte klare Gedanke, den ich hatte, weil ich wusste, dass ich das auf gar keinen Fall machen würde. Selbst im Traum wusste ich, dass ich schon zu viel gesehen hatte.

    Ich hörte Stimmen irgendwo da draußen in der Dunkelheit, und dann ging die Fahrertür auf, und ich spürte, dass jemand einstieg. Ich öffnete die Augen ganz und sah mich um, und es war Nacht geworden, und ich konnte kaum was erkennen. Ich setzte mich im Sitz auf und rechnete damit, Stump neben mir zu spüren, aber da war nichts. Ich wusste genau, dass jemand hinter dem Lenkrad saß, weil dieser Jemand die Tür zugezogen hatte und ich hören konnte, wie er nach etwas in seiner Tasche kramte. Dann ging ein Feuerzeug an, und ich sah, dass es Mr Stuckey war, und er hielt Mamas Schlüssel über die Flamme, als wollte er sie sich genau ansehen. Er war ungefähr so alt wie mein Daddy, und er trug ein Button-down-Hemd und hatte sich die Haare mit Frisiercreme glatt nach hinten gekämmt. Er fand den richtigen Schlüssel und ließ die Flamme ausgehen. Ich hörte, wie er das Feuerzeug zurück in die Tasche schob, und dann warf er den Pick-up an.
    »Was machen Sie?«, fragte ich ihn. »Wo ist meine Mom?«
    »Die treffen wir bei Miss Lyle zu Hause«, sagte er. Er legte den Arm auf die Sitzlehne, wandte den Kopf und blickte durchs Heckfenster. Er setzte rückwärts aus der Parklücke und machte einen Schwenk zur Vorderseite der Kirche. Die Kirchentür stand offen, und von drinnen fiel Licht auf den Parkplatz. Es standen ganz viele Leute da draußen, und einige von ihnen hatten die Hände vors Gesicht geschlagen, als würden sie weinen.
    »Was ist passiert?«, fragte ich.
    »Wir sind gleich da«, sagte Mr Stuckey. »Deine Mama wartet da auf dich.«
    »Was ist passiert?«, fragte ich wieder.
    Er fuhr weiter, mitten über den Parkplatz, und bog auf die Straße, weg vom Highway, und trat kräftig aufs Gaspedal. Ich drehte mich um und kniete mich

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