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Fürchtet euch

Fürchtet euch

Titel: Fürchtet euch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wiley Cash
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richtig, womit Ben es zu tun hatte, und ich seufzte so laut, dass alle es hören konnten.
    »Tja, vielleicht solltet ihr alle heute Nacht bei uns schlafen«, sagte ich. »Morgen früh überlegen wir dann, wie’s weitergeht.«
    »Ja!«, flüsterte Spaceman Ben zu, als würde er eine elfstündige Gnadenfrist feiern. Selbst Jeff neben mir schien sich zu entspannen, als wüsste er, dass ihm erst mal keine Bestrafung blühte, solange seine Freunde bei uns im Haus waren. Es wurde wieder still im Wagen.
    »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben«, sagte Ben.

    Manchmal denke ich, dass ich Ben damals nicht deshalb bei uns übernachten ließ, weil ich Angst hatte, was sein Daddy ihm antun würde, wenn sein Sohn so betrunken nach Hause käme, wie er selbst jeden Abend, sondern weil ich Angst davor hatte, was Ben mit seinem Alkoholpegel, der einen Mann ganz schön enthemmen kann, nun vielleicht seinem Daddy antun würde. Nicht, dass ich Angst vor Ben Hall hatte, aber ich glaube, ich hatte ein bisschen Angst davor, zu was er fähig sein könnte.
    Die Erinnerung an diese Nacht, vor allem an den Ausdruck in Bens Gesicht, den ich als Angst oder vielleicht auch Wut gedeutet hatte, beunruhigte mich, während ich zu Adelaide Lyles Haus fuhr. Die Vorstellung, Ben könnte Leuten aus der Kirche seiner Frau begegnen, und das in dem Wissen, sie wären womöglich irgendwie für den Tod seines Sohnes verantwortlich, weckte in mir die Sorge, die vielen Jahre als geprügelter Sohn könnten sich in einer Gewalt ent- laden, die Ben weder kalkulieren konnte noch kontrollieren wollte. Meine Befürchtungen gründeten nicht bloß darauf, dass er ein kräftiger Mann war, der eine harte Seite hatte entwickeln müssen, oder weil sein Trunkenbold von Daddy wieder in Madison County aufgetaucht und jetzt vermutlich mit ihm zusammen unterwegs zu Adelaide Lyle war. Nein, ich hatte auch deshalb Angst, weil ich diese Kirche kannte und weil ich den Mann kannte, der sie leitete, als wäre er Jesus höchstpersönlich, und weil einige Leute, die diese Kirche besuchten, an Carson Chambliss glaubten, als wäre er das tatsächlich.
    Die Menschen hier in der Gegend können sich an Religion wie an eine Droge klammern, von der sie nicht mehr lassen wollen, wenn sie erst einmal mit ihr in Berührung gekommen sind. Religion ist wie Nahrung für sie, und um satt zu werden, neigen sie dazu, alles zu tun, was diese kleinen hinterwäldlerischen Kirchen ihnen befehlen. Und im selben Atemzug können sie sich gegenseitig wegen ihres Glaubens umbringen, können ihre Kinder aus dem Haus werfen, ihre Ehemänner und -frauen betrügen, Familien zerstören. Ich weiß nicht genau, wie lange Carson Chambliss schon in Madison Country wohnte, als ich das erste Mal mit ihm zu tun bekam. Und ich behaupte auch nicht, dass dieser Fanatismus erst mit ihm anfing, denn das stimmt nicht, wie ich weiß. Diese Art von Glaube gab es hier schon, lange bevor ich zur Welt kam, und ich schätze, es wird ihn auch noch geben, wenn ich längst nicht mehr bin. Aber ich habe mit eigenen Augen gesehen, was er anrichtet, und noch immer kann ich nicht genau sagen, was das ist oder warum sich die Menschen so davon beeinflussen lassen. Vor zehn Jahren habe ich gesehen, wie ein Mann seine eigene Scheune anzündete, während seine ganze Familie im Hof stand und zusah, wie sie abbrannte, bloß weil er meinte, er täte das Richtige.
    Vor meinem geistigen Auge ist diese Scheune noch immer ein ausgebranntes Gerippe vor einem dämmrigen Himmel. Alle Nachbarn hatten ihre Häuser in dem Tal verlassen, waren über die Schotterstraße zu Gillums Haus gepilgert und versammelten sich vor dem grasbewachsenen Hügel, auf dem die Scheune stand. In ihr flackerte ein helles orangegelbes Licht. Ich war dem Rauch vom Highway aus ge- folgt und fuhr langsam am Zaun entlang, als einer von ihnen sich umdrehte und mich ansah, als hätte er noch nie einen Polizisten gesehen. Aber die meisten starrten weiter auf die Scheune, aus der der Rauch einer kompletten Ernte quoll, die darin in Flammen aufging. Es sah aus wie Nebel, der über die ganze Wiese waberte und durch den Stacheldrahtzaun quoll. Die Fenster des Streifenwagens waren geöffnet, und die Luft roch süßlich nach Tabak.
    Gillum und seine beiden Töchter standen im Hof und schauten dem lodernden Feuer zu. Seine Frau war ins Haus gegangen, um sich den Anblick zu ersparen und die Berechnung des Verlustes hinauszuzögern, die unausweichlich folgen würde. Noch heute stelle ich mir vor,

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