Fundort Jannowitzbrücke
Unser Beruf ist voll davon.«
Ute nickte. Sie machte noch immer keine Anstalten auszusteigen.
»So ein Dilemma ist nie leicht zu lösen«, sagte Anna. »Aber du mußt damit zurechtkommen. Jeder von uns findet da seinen eigenen Weg. Es gibt einige, die schreiben nicht alles in ihre Berichte. Andere verstecken sich hinter ihrer Pflicht. Einfach ist es nie.«
»Es hätte eine wichtige Spur sein können, nicht wahr?«
Anna zuckte mit den Schultern. »Ich denke, daß du richtig gehandelt hast.«
»Ich hätte mir so sehr gewünscht, daß dieses Monster gefaßt wird«, sagte Ute. Zwei Männer mit Sporttaschen kamen aus dem Studio. Sie sahen kurz zu ihnen hinüber, dann vertieften sie sich wieder in ihr Gespräch.
»Das alles geht mir nicht aus dem Kopf«, sagte Ute. »Er hat Bettina aufgelauert. Abends sehe ich mir die Männer an, die bei mir einen Burger kaufen. Und plötzlich denke ich: Der könnte es gewesen sein! Oder der? Dann habe ich dieses Gefühl bei jedem, den ich bediene. Bei den Leuten in der U-Bahn, den Menschen auf der Straße.«
»Du darfst dich nicht hineinsteigern«, sagte Anna. »Das hilft niemandem.«
Ute nickte langsam und griff nach ihrer Sporttasche. Anna hatte bereits die Autotür hinter sich zugeworfen, als das Mädchen ausstieg und zu ihr hinübersah.
»Frau Proschinski«, sagte sie. »Denken Sie, daß er noch in der Nähe des Burger Point ist?«
Die Polizistin spürte den Impuls, etwas Beruhigendes zu sagen.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie statt dessen. »Niemand kann das wissen.«
Die Dämmerung hatte sich über den Alexanderplatz gelegt. Eine dunkle Wolkenwand war am Himmel aufgezogen und schluckte das letzte Licht. Nach und nach flackerten die Laternen auf. Ein kalter Wind trieb liegengebliebene Bierdosen und alte Zeitungen vor sich her. Die Titelseite einer Zeitung rutschte von einer Bank herunter und überschlug sich auf dem Asphalt. Die Schlagzeile über den Serientäter und die Fotos seiner Tatorte tanzten im Wind, bis das Blatt an die Füße eines Mannes geweht wurde, der neben dem Aufgang der U-Bahn stand.
Er stieß die Zeitung nachlässig weg, ohne sie zu beachten. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die Burger-Point-Filiale, durch deren hohe Fenster er die geschäftigen Mitarbeiterinnen sehen konnte. Er starrte hinein und versuchte seiner aufgewühlten Gefühle Herr zu werden.
Er hatte die Kontrolle verloren. Er hatte versagt. Seine ganze Sicherheit, das Gefühl der Überlegenheit, es war alles ins Wanken geraten. Bislang hatte er über ihr Schicksal entschieden. Sie hatten sich ihm fügen müssen. Diese Kontrolle war alles gewesen. Und nun hatte er sie verloren.
Es dauerte eine Weile, bis er die Frau bemerkte, die auf den Platz getreten war. Er hatte in ihre Richtung gesehen, ohne sie wahrzunehmen. Die junge Frau wandte sich schnell ab und sah zu Boden. Sie drückte ihre Tüte mit dem Burger- Point-Aufdruck eng an den Körper, drehte sich ängstlich zu ihm um, dann ging sie eilig über den Platz.
Die Frau hatte Angst vor ihm, schoß es ihm durch den Kopf. Er verlor seine Unsichtbarkeit. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er wandte sich ab und lief zum U-Bahn-Eingang. Dort unten waren Menschen. Er mußte wieder untertauchen, unsichtbar werden. Dort unten würde er in die Menge eintauchen können.
Es dauerte nur Sekunden, dann war er an den Treppen angelangt und unter der Erde verschwunden.
Es war bereits nach acht, als Gerhard Pohl die Tür zur Kantine im Kellergewölbe der Keithstraße aufstieß. Zwar hatte die Küche bereits geschlossen, doch er wußte, daß sich im Durchgang noch ein Kaffeeautomat befand. Der Automat in der vierten Etage war seit Mittag defekt, und er hoffte, hier unten noch einen Becher zu bekommen.
Zu seiner Überraschung war er nicht allein in der Kantine. Ein Tisch in dem großen Speisesaal war noch besetzt. Wolfgang Herzberger saß dort mit Dr. Freythal, der Rechtsmedizinerin. Gerhard Pohl stutzte und fragte sich, wo das rechtsmedizinische Institut eigentlich seinen Sitz hatte. Offenbar besaß Dr. Freythal neue Ermittlungshinweise, wenn sie noch am Abend nach Schöneberg gekommen war. Er winkte ihnen zu und trat an ihren Tisch. Sie hatten große Tassen frisch aufgebrühten, duftenden Kaffees vor sich stehen.
»Wo haben Sie denn frischen Kaffee organisiert?«
Wolfgang lächelte ihn an. »Mittwochs bleibt eine Küchenhilfe nach Feierabend und putzt die Regale. Ich habe sie mit fünf Euro bestochen. Versuchen Sie es auch. Der Kaffee schmeckt
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