Galileis Freundin (German Edition)
Städte, jedes Haus zumauern zu lassen, in denen die Pest die ersten Opfer g e funden hatte.
„Waren die Behörden in Castel San Gimignano von ihren eigenen Bediensteten, vielleicht sogar von Marco über ihre Krankheit informiert worden? Hatten die übergeordneten Behörden in San Gimignano das Gebäude zumauern lassen, obwohl sie noch gar nicht wussten , ob sie tot war?“
Hinter der Grausamkeit des Geschehens, versuchte sie den Sinn zu verstehen. Eingemauerte Pesttoten konnten niemand mehr infizieren. Im Interesse der anderen wurden nicht nur Tote, auch die Pestkranken eingemauert.
Ihren wieder aufkommenden Zorn unterdrückte sie und überlegte. In den Kellerräumen musste sich irgendwo eine schwere Eisenstange befinden, die Marco des Öfteren benutzt hatte, um einen Wagen beim Wechsel eines Rades anzuheben. Mit der Öllampe in der Hand fand sie bald diese Stange. Wie sollte sie vorgehen? Nach der schweren Erkrankung war es für sie nicht leicht, die lange Eisenstange hochzuheben. Noch schwerer würde es sein, kraftvolle Stöße g e gen die Wand auszuführen. Sie zwang sich zur Ruhe, untersuchte die Wand, um die Stelle au s findig zu machen, die am leichtesten nachgeben würde. In Höhe des Oberschenkels gab es eine Stelle, die nicht sehr sorgfältig verbaut war. Ein kleiner Tisch, den sie vor die Wand stellte, unterstützte ihr Vorhaben. Sie legte die Stange darauf, holte weit aus und stieß das Eisen wie einen Rammbock gegen die vermeintlich schwache Stelle. Wieder und wieder musste sie ihre Bemühungen wiederholen.
Nach einer Weile bröckelte ein erster Ziegel ab und ermunterte sie, weiterzumachen. Ihr Zorn ließ es nicht zu, dass sie ermattete. Sie holte einen Hammer und klopfte die benachbarten Steine lose. Stück für Stück wurde das Loch in der Wand größer. Noch reichte die Öffnung nicht, um eine Hand durchzustecken. Atemlos und mit wunden Händen lag sie erschöpft über dem Tisch. Sie entschied sich, am nächsten Tag ihre Bemühungen fortzuführen.
An diesem neuen Tag ging sie mit neuem Mut an ihre Aufgabe. Sie hatte die Mauer des Ke l lereingangs am Nachmittag komplett beseitigt. Mehr wollte sie zunächst nicht erreichen. Es war nicht nötig, weitere zugemauerte Tore und Türen zu öffnen. Sie waren eher fester Schutz gegen vagabundierende Wegelagerer.
Die Morgensonne in dem Park schenkte ihrem gepeinigten Körper eine wohltuende Wärme. Frische Luft ließ sie freier atmen und neuen Mut schöpfen. Sie richtete sich nach den empfo h lenen, vorsorgenden Maßnahmen der Ärzte gegen die Pest.
Blütenblätter und getrocknete Kräuter trug sie zusammen, holte von den nächstliegenden Fichten und Kiefern das sichtbare und angetrocknete Harz heraus, das sie in einem Blechnapf sammelte. Schließlich füllte sie Schalen mit den Kräutern, fügte einige kleinere Reisigzweige hinzu und entzündete sie. In den Blechnapf legte sie zu dem Harz glühende Holzstückchen aus dem Kamin. Alle Türen waren geöffnet. Der Weihrauch und die Essenzen strömten in alle Räume der Burg, um den Pestgestank zu vertreiben. Die einsame Gräfin verbrannte das erste stinkende Nachtgewand im Kamin, ebenso die verschmierte Bettwäsche, wie alle vergifteten Kle i dungsstücke, mit denen sie während ihrer Krankheit in Kontakt gekommen war.
Als sie sich nahezu vollständig erholt hatte, begann sie das Haus zu reinigen. Sie putzte und schrubbte, wischte jede Türklinke, lüftete immer wieder die Betten und ließ viel Luft in die Räume. Die glimmenden Duftstäbchen vor ihrem kleinen Hausaltar verbreiteten einen ang e nehmen Geruch. Endgültig war die Pest aus ihrem Haus verjagt.
Wochen zuvor waren ihre Bediensteten vor der Pest geflohen und hatten sie im Stich gelassen. Die schmerzliche E r kenntnis des Verlassenseins überfiel sie erneut. Konnte sie dem entsetzten, teuren Marco, der Kammerjungfer Margot, dem fleißigen Gärtner, der guten Köchin und den anderen ihre übe r eilte Flucht übel nehmen ? Liefen nicht in diesen schrecklichen Tagen die unwissenden Me n schen angsterfüllt, schreiend und unglücklich von dannen. Flohen nicht selbst Ärzte, Priester und Philosophen vor dem unendlichen Grauen, für das es nirgendwo eine Rettung zu geben schien? War nicht die Flucht das von dem Großherzog verordnete beste Verhalten? Hatten nicht die Behörden selbst ihr Haus zumauern lassen, war dies nicht eine andere Art der Flucht? Wer war schon in der Lage, in das grässliche Antlitz des stinkenden Todes zu schauen? Auch wenn
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