Galileis Freundin (German Edition)
die kirchlich gebotene Nächstenliebe jämmerlich auf der Strecke geblieben war, als die furchtbarste aller Krankheiten das Land überschwemmt hatte, fand sie nicht die Worte, nicht einmal Gedanken, die Menschen zu verurteilen, die sie im Stich gelassen hatten.
Jeder, der sich ihrer angenommen hätte, jeder, der sie auch nur ein wenig gepflegt hätte, läge als stinkender Leichnam auf einem von Fliegen überfallenen Haufen Pestopfer. So traurig es war, und so schwer die Erkenntnis über die Schwächen der Menschen anzunehmen war, sie konnte ihre Dienerschaft nicht verurteilen. Es waren Stärken und Kräfte gefordert, über die Menschen nicht verfügten.
Sie war traurig, unendlich traurig über die bestätigte Erkenntnis, dass eines der höchsten Geb o te Gottes 'Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst' in der Stunde der Wahrheit, in d em Augenblick, da die Handlung gefordert war, versagt hatte.
Knapp dem garstigen Tode entronnen, verlassen in Picchena, fragte sie sich nach dem Sinn einer Kirche, die mit äußerlichem Pomp protzte, die eine glanzvolle Kultstätte nach der and e ren baute, in der die größten Künstler zum Ausschmücken beschäftigt waren, einer Kirche, die mit Hilfe der Inquisition ihren Machtanspruch menschenverachtend durchsetzte, die Menschen in Angst und Schrecken jagte, deren Vertreter sich einen Namen machten durch lüsterne Abenteuer, durch gesellschaftlichen Glanz und Gier nach Überfluss , und die ausschließlich an ihren persönlichen Nutzen dachten.
Die einzigen Lebewesen in ihrer Nähe, waren die fünf Pferde. Sie grasten auf der gegenübe r liegenden Anhöhe, die bis ins Tal zu dem kleinen Bach reichte. Sie sandte ihren Freunden aus der Ferne eine Grußbotschaft und nahm sich vor, sich sobald wie möglich, um die Tiere zu kümmern.
Die Früchte, die der Garten hervorbrachte in dieser schönen, warmen Zeit, halfen ihr, die Tage zu überstehen. Das frische Wasser aus den Tiefen der Berge gab ihr die Zuversicht, ihre vollen Körperkräfte bald wieder zu erlangen.
Wenige Tage später nahm sie sich vor, ihre Freunde, die Pferde, von der Koppel zu holen. Freudig wurde sie von den Tieren begrüßt. Immer wieder stießen sie ihr Maul an ihre Schulter und zeigten ihre Zuneigung. Die Gruppe ging langsam den Hang hinunter. Die Sorge um die Tiere, das Beisammensein mit ihren Pferden, war für die junge Gräfin der Neubeginn des L e bens. Das Alleinsein hatte ein Ende. Ihre Partner nahmen ihr die Einsamkeit und waren ihr auf dem Weg zurück in die Welt behilflich. Sie brachte die Pferde in den Stall und versorgte sie.
Im beginnenden, strahlenden Sommer führte sie ihre Pferde an den kühlen Bach zur Tränke. Die Tiere schnaubten unruhig. Ihre Herrin schaute nach dem Grund. Ein Reiter näherte sich. Er achtete nicht auf die Frau. Sein Blick war starr auf die Burg gerichtet, als suchte er dort die Menschen, die nicht mehr da waren. Er ritt langsam weiter. Näherte sich der Herrin der Burg bis auf fünfzig Meter. Dann wandte er den Kopf.
Mit festem Blick schaute sie ihm in die Augen, hatte ihn sogleich erkannt. Seiner eigenen E r kenntnis folgte ein entsetzter Ruck durch den Körper. Als entdeckte er einen Geist von einem Menschen, den er hier nicht mehr vermutete, lähmten für einen Augenblick das Entsetzen und die Angst seine Handlungsmöglichkeit. Dann stieß er den Absatz seines Stiefels in die Flanken des Tieres und stob mit einem lauten 'Hüah' davon. Caterina schwang sich auf ihren ungesatte l ten Hengst, legte sich weit über den Hals des Tieres, hielt sich an der langen Mähne fest, trieb nun ihrerseits ihre Fersen in die Flanken des Tieres und setzte dem Flüchtenden nach. Mit e i nem riesigen Satz sprang sie über das Gatter hinter Marco her. Sie war erheblich jünger als er. Sie war wieder gesund und durchaus gut ernährt. Ihr Pferd war schneller als der alte Gaul des Verwalters. Ihr Ritt war jugendlicher, elastischer.
Sie näherte sich dem Flüchtenden, setzte sich vor das fliehende Pferd und stellte sich ihm schließlich in den Weg. Marco hielt an. Die Pferde schnauften. Der alternde Mann vermochte nicht, den Augen seiner Herrin, die er so würdelos im Stich gelassen hatte, zu begegnen. Er versuchte aus zu weichen. Sie verstellte ihm mit ihrem Pferd den Weg. Er wusste , dass er sich se i nem Versagen stellen musste . Die Pferde begrüßten sich unruhig. Die Menschen erkannten Mauer zwischen sich, eine Mauer aus Hoffnung und Angst, aus Versagen und Verantwortung.
Weitere Kostenlose Bücher