Galileis Freundin (German Edition)
als sie aus dem Krug Wasser trank. Sie trank einen großen Schluck und noch einen und noch einen. Für einen kurzen Augenblick war der Genuss des Wassers größer als die Schmerzen. Bald verfiel sie erneut in Halluzinationen. Geistige Umnachtung ließ sie in eine tiefe Depression fallen. In den wenigen Momenten, in denen sich ihr Körper eine Atempause gönnte, die Schmerzen für sie nicht spürbar waren, schöpfte die Pestkranke Mut.
Was schrieb Guy de Chauliac, der Leibarzt der Päpste nach der großen Pest im vierzehnten Jahrhundert? Was hatte sie in seinen Ausführungen ‘Chirurgia Magna’ über die verschiedenen Formen der Pest gelesen? Gab es Hoffnung für sie? In ihrem Hustenspeichel war kein Blut. War es die schwächere Art der Pest? Nicht die Lungenpest? Die ekelhaften Beulen an ihrem Körper zeigten es, die Beulenpest versuchte ihr Leben zu ruinieren.
„Ich will überleben, ich werde überleben. Mein Körper wehrt sich gegen den Tod. Ich wehre mich gegen den Tod.“
Sie lauschte zitternd in die verlassenen Räume der Burg. Nicht ein einziges Geräusch wies auf einen Bewohner hin. Sie wollte schreien. Die Stimme versagte. Tränen rannen über ihr Gesicht. Das Salz in den Wunden brannte. Mit einem letzten Aufbäumen kämpfte sie gegen die au f kommende, tiefe Traurigkeit an. Nach einem neuen Hustenanfall blickte sie auf ihren Speichel. Sie sah kein Blut.
„Ich werde überleben.“ Bei diesen Gedanken überfiel sie ein taumelnder Schwindel. Mit rase n der Geschwindigkeit sauste sie zwischen den Sternen hindurch in eine unendliche Finsternis.
In einem wachen Moment vernahm sie plötzlich Geräusche. Sie dachte an Marco, versuchte, ihn zu rufen. Ihre Stimme klang wie das Krächzen eines Raben. Die Tür wurde aufgestoßen. Ein Wegelagerer stand wild gestikulierend und drohend im Eingang. Als er die fast gänzlich entkleidete Todkranke entdeckte, stürzte er unter Schreien die Treppe hinunter und rannte aus dem Haus.
Der Pestkranken war der aufdringliche Besucher gleichgültig. Sie konnte keine Gefühle für ihn entwickeln. Mit den Gedanken ‘ich werde überleben, ich werde gesund’ verfiel sie erneut in einen todesähnlichen Schlaf. In einem Anfall von Wahnideen wurde sie von schwarzen, b e drohlichen, fledermausähnlichen Vogelkreaturen umschwirrt. Mit gabelzinkigen Krallen, Spe e ren mit Widerhaken und hässlichen Gesichtern, aus denen die blutunterlaufenen Augen herau s traten, griffen sie die Menschen von ihren Feldern und aus ihren Betten, entrissen sie den wen i gen anwesenden Engeln und warfen sie in das ewige Feuer der Hölle. Unschuldige Kinder und kranke Greise, fromme Betschwestern und betrügerische Pfaffen, noble Edelfrauen sowie arme Huren, korrupte Kaufleute und gewalttätige Äbte verschwanden ebenso in den Teufelsqualen der Unterwelt, wie ehrenhafte Bürger, opferbereite Priester und Gelehrte. Die widerlich schre i enden Gestalten mit ihren langen, schwarzen Ohren und stinkenden Schwänzen machten bei ihren Mordbesuchen keinen Unterschied zwischen gut und böse, alt und jung, arm und reich. Wahllos verschleppten sie die Menschen wie zufällig von der Erde in die Vernichtung. Sie en t wand sich den Krallen einer scheußlichen Kreatur. Eine andere teuflische Fledermaus stürzte sich mit dampfenden Lippen und einem bluttriefenden Speer in der Hand auf sie. Sie schleudert e ihm ihre eigene Botschaft entgegen: ‘Ich lebe’, hieß ihr eigener Speer, stellte sich dem Ungeheuer mit sicherer Miene in den Weg und wich keinen Finger breit von ihrem Standpunkt ab. Mit einem krächzenden Lachen, bösa r tigen Verwünschungen und Flüchen rauschte die ungeheure Gestalt an ihr vorbei ohne sie ernsthaft gefährden zu können. Sie atmete noch im Traum tief ein und erwachte erneut.
Ihre Kräfte ließen nach. Der Durst war entsetzlich. Ein todesähnlicher Schlaf überwältigte sie erneut. War sie wach oder schlief sie, lebte sie noch in Picchena oder war sie längst auf der langen Reise durch die jenseitigen Gefilde? Es war wie ein Leben zwischen den Welten. Die Schmerzen spürte sie kaum noch. Hoffnung und Bangen, Versagen und todesmutiger Kampf zerrten an ihrer Lebenskraft.
‘Ich lebe und bin gesund. Keine teuflische Macht dieser Welt wird mich vernichten können.“
Die Wände in ihrem Schlafgemach schwiegen sie an. Die Burg Picchena verschluckte das Leid ihrer Herrin. Sie ließ kein Signal der Schmach und der Pein in die Welt der Menschen dringen. Was hätte es auch genutzt? Gab es da
Weitere Kostenlose Bücher