Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
also. In der europäischen Küche bringt sich der Tastsinn von Zunge und Zähnen für gewöhnlich lediglich bei der recht groben Feststellung ein, ein Steak sei zart oder zäh. Wie ausgefeilt dagegen das taktile Wahrnehmungsvermögen der Chinesen: Der aus Sojabohnen gewonnene Verwandlungskünstler Doufu zum Beispiel, die Proteinbombe des chinesischen Volkes, schmeckt erst einmal nach nichts bzw. nach »Arsch und Friederich«, wie eine unserer schwäbischen Besucherinnen einmal einzuwerfen geruhte, und gewinnt einen großen Teil seiner Wertschätzung durch die unterschiedliche Konsistenz der unzähligen Doufu-Arten: Der eine Doufu gleitet weich und glatt über den Zungenrücken, der andere entpuppt sich als porös und saftig, wieder andere sind faserig wie ein Hühnerschnitzel, tausendschichtig wie Blätterteig oder glasig und bissfest wie ein Stück Emmentaler. Jeder Happen ein neues Abenteuer für Zunge und Zähne. Auch Fisch wird oft nicht bloß nach Geschmack und Fettigkeit ausgesucht,sondern danach, ob er fleischig ist oder auf der Zunge zergeht. Das feste Fleisch eines gedämpften Mandarinfisches ( qing zhen gui yu ) etwa fügt sich so hervorragend in ein Mahl mit knusprigen frittierten Garnelenbällchen und samtenem Doufu in scharfer Sichuan-Pfeffer-Soße »nach Art der pockennarbigen Alten« ( ma po dou fu ). Eine besondere Vorliebe scheinen Chinesen übrigens für Knatschiges zu haben: Vor allem bei den Nachspeisen knatschen und pappen einem die meist aus Klebereis hergestellten und mit sämiger Sesam- oder Bohnenpaste gefüllten Kügelchen Ober- und Unterkiefer aneinander, dass es eine Freude ist. Es bereichert darüber hinaus den akustischen Diskurs am Tisch um originelle Schmatzlaute.
Zum Schmatzen: Geräuschabsonderungen jeder Art sind nicht nur nicht verpönt, sondern gehen als Kompliment an Küche und Gastgeber durch. Dem Besucher des heutigen China ist nur schwer zu vermitteln, dass das nicht immer so gewesen zu sein scheint: »Haltet Maß und schmatzet und schlürfet nicht. Es darf kein Geräusch des Essens zu hören sein«, dozierte der Song-Philosoph Zhu Xi in seinem Werk »Was unwissende Kinder wissen müssen«. Zusammen mit den feinen und gebildeten Klassen entsorgten Maos Revolutionäre dann allerdings auch Chinas Tischsitten, und so haben Kinder in China heute eindeutig mehr Spaß, und auch Erwachsene dürfen ungestraft Knochenstücke und anderes Unzerkaubares direkt aus dem Mund auf Tisch oder Boden fallen lassen, Fallhöhe unerheblich.
Zeuge dieser Übung wird man übrigens auch in gehobenen Restaurants, was nicht jeder Europäer gutheißt, vom Praktischen her betrachtet jedoch einiges für sich hat – werden Huhn, Ente und andere Vögelchen doch meist samt Knochengerüst klein gehackt und serviert. Der Leser wird schon einmal von jenen Zungenakrobaten gehört haben, die einen einfachen Faden in den Mund nehmen und Sekunden später dem staunenden Publikum einen doppelten Weberkreuzknotenauf der Zunge präsentieren. Angeblich lassen sich aus solcher Kunst Rückschlüsse ziehen auf die Fertigkeiten im Liebesspiel, meine These ist jedoch, dass die Zungenknoter in China sich mehr am Geflügel denn am anderen Geschlecht schulen – jedenfalls ist es erstaunlich, welche Gewandtheit den Chinesen beim Lösen des Fleisches vom Hühnerknochen im geschlossenen Mundraum zu eigen ist und mit welchem Tempo dies vonstatten geht, sodass sich rund um Teller und Beine der Tischgesellschaft schnell ganze Mittelgebirgszüge blitzeblanker Knochenstücklein erheben. Nach Auszug der Gäste rücken die Kellnerinnen an mit Schaufeln und Eimern wie eine Baukolonne. Viele Restaurants haben das Entsorgungsproblem gelöst, indem sie jeden Tisch mit mehreren Lagen Einwegplastikdecken belegen: So hebt man einfach die vier Enden gleichzeitig an, verschnürt die frische Müllhalde zu einem praktischen Beutel und entsorgt sie mit einem Handgriff.
Widerstand am Esstisch ist dann unangebracht und zwecklos, wenn einem der Gastgeber unter der munteren Aufforderung »Chi! Chi! Chi!« (Iss! Iss! Iss!) mit seinen Stäbchen neue Bissen in den Mund schiebt, als wäre man ein Neugeborenes. Ansonsten ist man als Ausländer in China aufs Wunderbarste privilegiert, wird man doch als eine Art Außerirdischer wahrgenommen, der unmöglich mit den Sitten des Gastlandes vertraut sein kann und dem somit alles zu vergeben ist. Alles bis auf eines: Man isst nie seine Schüssel leer in China. Das nämlich hieße, es war nicht genug Essen da,
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