Gefährliche Nebenwirkung (German Edition)
zuletzt dem Erfindungsreichtum Deiner Mutter, der Chemikerin, ist. Vielleicht erinnerst Du sie mal daran. Du bist meine Tochter. Vergiss das niemals
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Deine Dich liebende Mutter
Annaliese Hagen
Es fühlt sich an, als sei ein Sturm durch den Raum gefegt und hätte meinem Haar den Rest gegeben. Ich reibe mir die Augen und fahre über die Gänsehaut auf meinen Armen.
Ich muss unbedingt aus diesem Zimmer raus. Einen Spaziergang am Strand machen. Meinen Kopf klar kriegen. Aber als ich hinaus auf den Balkon trete und meinen Blick über die Schwimmer und Sonnenanbeter schweifen lasse, dreht sich mir der Magen um. Jeder, der eine Sonnenbrille trägt und einen Hut, wirkt verdächtig. Gesichter, geschickt maskiert. Sehen sie hinauf zu den Seemöwen und Paragleitern? Oder blicken sie herüber zu mir?
Ich gehe zurück ins Zimmer und trinke ein Glas Wasser. Dann hole ich einmal tief Luft und setze mich wieder aufs Bett. Meine Hände zittern, während ich den Brief lese, den meine Großmutter Sonja an meine Mutter geschrieben hat.
Liebe Gilion,
beiliegend findest Du einen Brief von meiner Mutter Annaliese, den sie mir kurz vor ihrem Tod geschrieben hat. Ich hätte ihn Dir schon vor langer Zeit zeigen sollen, aber sind das nicht die typischen kleinen Kniffe des Lebens, dass es einem erst Klarheit gewährt, wenn man an der Schwelle des Todes steht?
Ich schreibe Dir dies im Angedenken an die Großmutter, die Du nie kennengelernt hast, was ich sehr bedaure
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Aber eins nach dem anderen. Ich habe vor Jahren mehr Geld in Hagen Pharmaceuticals investiert, als ich als Teilhaberin einen Brief bekam, in dem man mich darüber informierte, dass die Chemiker der Firma ein neues Anästhetikum hatten patentieren lassen, das sie auf den Markt zu bringen beabsichtigten. Ich versteckte den Brief und sagte Deinem Vater nichts davon. Zu der Zeit, als wir heirateten, hatten die Frauen in diesem Land erst seit zwanzig Jahren das Wahlrecht. Es war nur eine Handvoll von Wahlen gewesen, an denen man hatte teilnehmen können, und kaum genug, um Gesetze zu verändern. Einerseits hatte man zwar das Gefühl, die Frauen hät-ten es weit gebracht, andererseits schien es jedoch, als würden sie immer noch hinter dem Herd stehen. Vor dem Gesetz gehörte all mein Besitz meinem Ehemann, aber seinen Besitz konnte er vermachen, wem immer er wollte. Selbst mein Körper wurde als sein Besitz betrachtet. Wir stritten darüber und noch über so viele andere Dinge, über die wir uns nicht einig werden konnten, und mehr als einmalerhob er seine Hand gegen mich, um seinen Standpunkt deutlich zu machen. Aber es gab etwas, das ich ihm voraus hatte, und das waren die Hagen-Anteile, die meine Mutter mir hinterlassen hatte. Dein Vater konnte kein Deutsch und deswegen log ich ihm vor, dass der Treuhandfonds nur viel Papierkram für ein altes Haus in den Schweizer Bergen sei, das schon seit Jahrzehnten auf einem kleinen Stück wertlosen Landes immer mehr verfiel. Er glaubte mir. Ich war gar keine so schlechte Schauspielerin, muss ich sagen
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Aber nun zum Hagen-Investment. Eine der Chemikerinnen, die für die Entwicklung des Anästhetikums verantwortlich war, hieß Ulrike Dobler und war eben eine Frau. Wenn nur meine Mutter diesen Tag noch hätte erleben dürfen! Wenn Du ihren Brief gelesen hast, wirst Du verstehen, dass ich schon allein für Ulrike Dobler investieren musste. Das Anästhetikum wurde für Operationen eingesetzt. Hagen Pharmaceuticals konnte die Nachfrage kaum befriedigen. Sie schickten mir immer wieder Kontoauszüge über den Wert der Anteile
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Deinem Vater gegenüber behauptete ich, dass es sich dabei um Steuerschätzungen für das Grundstück handele, falls wir das Land zurückfordern wollten. Ich sagte ihm, es sei am besten, die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen und alles der Regierung zu über-geben, damit die sich darum kümmerte. Es war das einzige Mal, dass er mir sagte, ich hätte durchaus Verstand zwischen den Ohren. Wie schon erwähnt, ich war eine ganz gute Schauspielerin. Ich sang ihm ein Klagelied über die fürchterlichen Gesetze und hohen Steuern in der Schweiz. Mit großer Geste warf ich den Kontoauszug fort, nur um ihn später wieder aus dem Müll herauszusuchen und ihn zu-sammen mit den anderen im Waschraum hinter der losen Fußleiste zu verstecken
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Eigentlich ist es eine Schande, aber der Zweite Weltkrieg erwies sich als noch profitabler. Wo Soldaten früher auf dem Weg in die Lazarette gestorben waren, konnten ihre
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