Gefährliches Geheimnis
als er sein Kinn berührte. »Sie hat sich so sehr verändert, dass ich sie manchmal kaum wiedererkenne, und ich weiß nicht, warum!«, sagte er unglücklich. »Sie sagt mir überhaupt nichts … Sie vertraut mir nicht mehr. Was soll ich davon halten?« Seine Augen, wütend und verzweifelt zugleich, flehten um Hilfe.
Hester hörte alles, was er sagte, aber noch deutlicher als seine Worte vernahm sie die Panik, das Wissen, dass er die Kontrolle verloren hatte und dass seine Gefühle zum ersten Mal in seinem Leben so durcheinander waren, dass er es nicht verbergen konnte.
»Ich weiß nicht«, sagte sie freundlich und ging zu ihm.
»Aber ich werde alles tun, um es herauszufinden, das verspreche ich dir.«
Sie sah ihn sich genauer an und bemerkte die blauen
Flecken. »Was hast du mit deinem Gesicht gemacht?«
»Ich … ich bin gefallen. Es ist nicht wichtig. Hester …«
»Ich weiß«, sagte sie freundlich. »Du bist dir nicht sicher, ob du die Wahrheit wirklich erfahren möchtest, aber das stimmt nicht. Solange du es nicht weißt, spekulierst du darüber, und in deiner Phantasie spielen sich die schlimmsten Dinge ab.«
»Wahrscheinlich. Aber …« Er stand unbeholfen auf, als würde ihm die Hüfte wehtun. »Ich bin mir nicht ganz sicher, Hester. Vielleicht mache ich mir … ich meine, Frauen können …«
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
»Also, du natürlich nicht …«, stotterte er, und matte
Flecken überzogen seinen blassen Wangen.
»Mach dich nicht lächerlich!«, widersprach sie ihm. »Ich kann genauso unvernünftig sein wie andere Frauen auch, oder zumindest kann ich einem Mann, der mich nicht versteht, so vorkommen. Vielleicht erinnerst du dich, dass Papa das immer fand. Aber nur, weil er nicht begreifen wollte, dass ich genau wie du oder James etwas zu tun haben wollte.«
»Oh, sehr viel mehr!« Der schwache Hauch eines Lächelns huschte über seine Lippen. »Ich hatte nie deine Heftigkeit, wenn ich etwas wollte. Ich glaube, du hast ihm Angst gemacht.«
»Ich werde Imogen auf der Stelle besuchen«, versprach sie.
»Danke«, sagte er leise. »Warne sie zumindest. Sag ihr, wie gefährlich es ist! Auf mich hört sie nicht.«
Als Hester nach Endsleigh Gardens kam, wurde sie von Nell, dem Stubenmädchen, das sie seit Jahren kannte, eingelassen.
»Oh, Miss Hester!« Nell machte ein bestürztes Gesicht.
»Ich fürchte, Mrs. Latterly ist im Moment nicht zu Hause.
Aber kommen Sie doch herein. Sie ist sicher in einer halben Stunde wieder da, und sie wird sich freuen, Sie zu sehen. Kann ich Ihnen etwas bringen? Eine Tasse Tee?«
»Nein, vielen Dank, Nell, aber ich werde warten, danke.« Hester folgte ihr in den Salon, um sich in Geduld zu fassen, bis Imogen nach Hause kam. Sie setzte sich und stand wieder auf, sobald Nell den Raum verlassen und die Tür hinter sich zugemacht hatte. Sie war zu ruhelos, um untätig auf dem Sofa herumzusitzen. Sie ging im Zimmer auf und ab und betrachtete die vertrauten Möbel und Bilder.
Wie konnte sie Imogens Vertrauen so weit zurückgewinnen, dass diese ihr anvertraute, was sie so verändert hatte? Die Schwester ihres Mannes war doch sicher der letzte Mensch, dem sie gestehen würde, dass sie ihn betrog? Und wenn Hester ihr eine Frage stellte, die sie nur mit einer Lüge beantworten konnte, würde das die Kluft zwischen ihnen nur noch vertiefen.
Hester blieb vor einem kleinen Aquarell neben der Kamineinfassung stehen. Es war reizvoll, aber sie kannte es nicht. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ein Porträt an dieser Stelle, eine Frau, die einen Kopfschmuck aus Perlen im Stil der Renaissance trug.
Sie hob das Aquarell an und sah darunter ein helleres Oval auf der Tapete. Sie hatte Recht gehabt, das Porträt hatte hier gehangen. Sie sah sich im Raum um, konnte es jedoch nirgends entdecken, so dass sie ins Speisezimmer ging, wo es aber auch nicht war, ebenso wenig wie in der Halle. Es spielte eigentlich keine Rolle, aber es beschäftigte ihre Gedanken, während sie wartete.
Sie bemerkte auch andere kleine Veränderungen: eine Vase, die sie nicht kannte, eine silberne Schnupftabakdose, die jahrelang auf dem Kaminsims gestanden hatte und nicht mehr dort war. Auf dem Beistelltisch neben der Tür zur
Halle war ein hübsches Alabasterpferd verschwunden.
Sie dachte noch über die Veränderungen nach, als sie hörte, dass die Haustür geschlossen wurde, dann Stimmen und einen Augenblick später Imogens Schritte in der Halle.
Imogen riss die Tür auf und kam mit
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