Gefährliches Geheimnis
vorstellen, dass es noch Monate dauern würde, bis er sich mit dem Gedanken an den Verlust vertraut gemacht hatte. Alles war noch frisch, eine Wunde, kein Schmerz. Pendreigh nahm an dem Beerdigungsritual teil, weil es von ihm erwartet wurde, denn er war ein Mann, der seine Pflicht tat.
Gerade als sie sich abwenden wollte, tauchte ganz plötzlich der Leichenwagen auf, von vier schwarzen Pferden mit schwarzem Federschmuck gezogen, deren Hufschläge durch den Nebel gedämpft waren. Der Leichen- bestatter stieg geräuschlos vom Wagen. Kein Lüftchen bewegte den langen schwarzen Trauerflor an seinem hohen Hut. Sechs Sargträger trugen den Sarg in die Kirche.
Hester und Monk waren gezwungen, durch die Seitentür einzutreten, während die Orgelmusik die Kirche erfüllte und hoch oben in den gotischen Bögen widerhallte. Die
Messe begann.
Charles hatte sich um die Beerdigung ihrer Eltern gekümmert. Hester überlegte, ob sie ihm je richtig dafür gedankt hatte. Sie sah sich in der Kirche um. Sie war großartig und fast ein wenig erschreckend in ihrer Mächtigkeit, doch als die Musik anschwoll, die vertrauten Worte gesprochen wurden und die entsprechenden Antwortstrophen erklangen, barg sie auch Trost. Hier war der Tod immer eine Variante des Lebens, ob reich oder arm. Es gab mehr oder weniger Pracht, aber stets das gleiche Ritual. Das machte den Tod annehmbar, gab den Menschen das Gefühl, das Richtige zu tun und dass das Leben abgeschlossen war.
Außer für diejenigen, deren Trauer anhielt.
Auf der Krim war es anders gewesen. Sie hatte vieles gesehen – junge Männer in der Blüte ihres Lebens, auf dem Schlachtfeld gebrochen oder von Krankheiten dahingerafft. Es gab zu viele, um sie zu beerdigen, keine Kirchen, keine Musik, nur ein paar raue Stimmen, die anhoben, um sich Mut zu machen, weniger wegen des herrlichen Klangs der Töne.
Aber der Tod führte hier wie dort ins Jenseits. Dieser Prunk und dieses feierliche Zeremoniell, die schwarzen Federn und Bänder, die kunstvolle Zurschaustellung der Trauer war für die Lebenden. Fühlte sich wirklich jemand besser, oder gab es ihm einfach das Gefühl, sein Bestes getan zu haben und seiner Verpflichtungen nach- gekommen zu sein?
Im Laufe der Messe blickte Hester zur Seite und sah Callandra links von ihnen eine Reihe weiter vorne in der Nähe des Gangs stehen. Hester überlegte, was ihr wohl durch den Kopf ging. Eine Witwe konnte viele Jahre lang nicht wieder heiraten, aber ein Witwer konnte sich fast
sofort wieder verheiraten, ohne Anstoß zu erregen. Man erwartete, dass seine neue Frau aus Trauer um ihre Vorgängerin Schwarz trug, und Hester fragte sich mit einem leichten Anflug von Hysterie, ob ihr Hochzeitskleid auch schwarz sein musste!
Sie musste ihre Gedanken kontrollieren. Callandra hatte nichts derart Unziemliches gesagt. Aber Hester wusste, dass sie darüber nachdachte. Allein die Art, wie sie Kristians Name aussprach, verriet sie.
Hatte sie eine Ahnung, was für eine Frau in dem Sarg lag? Konnte Callandra sich die Schönheit, die Vitalität und Tapferkeit vorstellen, die sie – Fuller Pendreigh und Kristian zufolge – besaß, als sie noch lebte?
Schließlich war die Messe zu Ende, und Angehörige und Trauergemeinde mussten die Kirche in der richtigen Reihenfolge verlassen. Es galt, ein Ritual zu befolgen. Nur die Männer würden zum Grab gehen, ein Brauch, für den Hester manchmal dankbar war, den sie jedoch heute sowohl herablassend als auch ärgerlich fand. Frauen waren gut genug, die Kranken und Sterbenden zu versorgen, sie zu waschen und aufzubahren, aber weder charakterlich noch geistig stark genug, zuzusehen, wie der Sarg ins Grab gesenkt wurde.
Sie konnte jedoch am Begräbnismahl teilnehmen, das nicht in Kristians Haus abgehalten wurde, sondern bei Fuller Pendreigh. Hatte Pendreigh sich dies angemaßt? Oder hatte Kristian es ihm bereitwillig eingeräumt? Hester und Monk waren eingeladen worden, weil Monk seine Hilfe bei der Aufklärung des Verbrechens angeboten hatte.
Hester kam die Zeit zwischen dem Verlassen der Kirche und der Ankunft in Pendreighs Haus in der Ebury Street zum Begräbnismahl wie eine endlos lange Wartezeit vor. Die Gäste waren in der prächtigen Halle und in dem noch
schöneren Salon versammelt. Hester bemerkte sogleich, dass Callandra nicht unter ihnen war. Vielleicht war es besser so, wenn auch ein wenig verletzend. Sie hatte Elissa nicht gekannt, und da sie das Krankenhaus vertrat, war Kristian ihre einzige Verbindung.
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